Die Begierde: Fallen Angels 4 (German Edition)
Worum sie sich lieber Gedanken machen sollte, war sein Gesundheitszustand, und wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass er sie auf Schmerzensgeld verklagte.
Doch stattdessen klang ihr seine heisere Stimme im Ohr. Sie sah seinen durchdringenden Blick auf sich ruhen, als wäre jede Kleinigkeit an ihr faszinierend und bedeutsam gewesen …
Er hatte sich vor einer ganzen Weile verletzt, dachte sie. Die Narben neben seinem Auge waren im Laufe der Zeit verheilt.
Was war ihm zugestoßen? Wie hieß er …?
Während sie im Reich der Fragen ohne Antworten versank, erledigte der Taxifahrer seinen Job ohne große Umstände. Sech zehn Dollar, achtzehn Minuten und ein schmerzendes Steißbein später betrat sie die Redaktion.
Es herrschte bereits eine gehörige Lautstärke in dem großen Raum, überall Gerede und Gerenne, und der Tumult beruhigte ihre Nerven – genau wie Yogastunden sie zappelig machten.
Sie ließ sich an ihrem Platz nieder, hörte ihren AB ab, loggte sich im PC ein und schnappte sich den Becher, den sie benutzte, seit sie vor gut eineinhalb Jahren diesen Schreibtisch geerbt hatte. In der Gemeinschaftsküche standen ihr sechs Kaffeemaschinen zur Verfügung: In keiner davon war Koffeinfreier, drei waren einfach voll gutem altem Filterkaffee, und die anderen produzierten diesen stinkenden Haselnussquatsch oder Mädchenkram wie Latte macchiato.
Was für ein Mist. Wenn sie Lust auf Karamell hatte, konnte sie sich einen Eisbecher holen. Das Zeug gehörte nicht in einen Kaffeebecher.
Als sie sich ihren stinknormalen Schwarzen eingoss, dachte sie an die ursprüngliche Besitzerin der Tasse, Beth Randall, die Reporterin, die wie lange an dem Schreibtisch gesessen hatte? Mussten etwas über zwei Jahre gewesen sein. Eines Nachmittags war die Frau verschwunden und nie mehr zurückgekommen. Mels hatte es leidgetan – obwohl sie ihre Kollegin nicht so wahnsinnig gut gekannt hatte –, und sie hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, unter diesen Umständen einen eigenen Schreibtisch zu bekommen.
Den Kaffeebecher hatte sie aus keinem besonderen Grund behalten. Aber als sie jetzt einen Schluck daraus trank, stellte sie fest, dass es in der Hoffnung geschehen war, die Frau käme zurück. Oder es ginge ihr zumindest gut.
Sah aus, als wäre sie von Vermissten umgeben.
Vielleicht kam es ihr an diesem Morgen auch nur so vor. Besonders, wenn sie an den Mann von gestern dachte – den sie nie wiedersehen würde, und den sie offenbar nicht vergessen konnte.
Das war nicht sein Haus.
Als das Taxi vor einem Bungalow in einem bürgerlichen Wohnviertel hielt, wusste Matthias, dass er nicht unter diesem Dach wohnte. Nie gewohnt hatte. Nie wohnen würde.
»Steigen Sie jetzt aus oder nicht?«
Matthias erwiderte den Blick des Mannes im Rückspiegel. »Warten Sie mal kurz.«
»Taxameter läuft.«
Matthias nickte, stieg aus und stützte sich beim Gehen auf seinen Stock. Mit dem ramponierten Bein beschrieb er bei jedem Schritt einen weiten Kreis, um das Knie nicht beugen zu müssen. Das hier sah nicht gerade nach Bilderbuch aus: In die struppige Hecke unter dem Erkerfenster war ein Ast gefallen. Der Rasen war voll Moos. Unkraut wuchs in der Dachrinne, reckte sich nach der Sonne.
Die Haustür war verschlossen, also legte er die Hände an die Schläfen und spähte durch die Fenster zu beiden Seiten. Wollmäuse. Zusammengewürfelte Möbel. Eingestaubte Vorhänge.
An die Hausmauer war ein billiger Briefkasten geschraubt, Matthias klappte den Deckel auf. Postwurfsendungen. Ein Rabattmarkenbüchlein, adressiert an die »Bewohner des Hauses«. Keine Rechnungen, Kreditangebote, Briefe. Die einzige andere Sendung war ein Magazin der Rentnervereinigung AARP , auf dem derselbe Name stand wie auf dem Führerschein, den man ihm gegeben hatte.
Matthias rollte die Zeitschrift zusammen, steckte sie in seine Windjacke und lief zurück zum Taxi. Nicht nur war das nicht sein Haus, sondern hier lebte überhaupt niemand. Gut möglich, dass der Betreffende vor, sagen wir, vier bis sechs Wochen verstorben war – sodass seine Angehörigen zwar bereits die Konten und Verbindlichkeiten in Ordnung gebracht, aber noch keine Zeit gehabt hatten, das Haus auszuräumen und zum Verkauf anzubieten.
Matthias stieg in den Wagen und blickte starr geradeaus.
»Wohin jetzt?«
Ächzend lehnte er sich zur Seite und zog seine Brieftasche heraus. Er suchte Mels Carmichaels Visitenkarte, obwohl er gleichzeitig das drängende Gefühl hatte, dass er die Frau nicht mit
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