Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Sonntagnachmittag, wenn die Wohnung uns gehörte: am Sonntag weder Mittags- noch Abendtisch für die Pensionäre. Sie war streng gehalten, wenn nicht unter der Fuchtel ihrer Mutter aufgewachsen und blieb ihr gegenüber gehorsam und jungmädchenhaft. Ich habe unklare, verklärende Erinnerungen an Sonntagnachmittagspaziergänge. Sie muà eine stolze Mutter gewesen sein, unterwegs mit dem Säugling im Kinderwagen unter den Bäumen im Bremgartenwald, im Lichtspiel und Vogelgezwitscher. Doch kann ich mich nicht erinnern, je geherzt worden zu sein, ich kann mich nicht daran erinnern, daà sie mit Worten und Gefühlen an meinen Erfahrungen oder Nöten teilgenommen hätte; daà sie je auf mich eingegangen wäre, kann mich nicht an Zuspruch oder Hilfestellung oder Rat, nicht an Mitleid oder Trostspendung erinnern. Später, als ich Gymnasiast, Student und selber Dr. phil. und Kritiker und Schriftsteller geworden war, ging ihr Stolz in ein Eingeschüchtertsein über, Bewunderung, blind, jedoch gab es nie einen Dialog, nur formelhafte Sprüche, Redensarten. Sie liebte die Gesellschaft meiner Freunde. Sie schien mir seelisch unterentwickelt, die Freunde aber sprachen immer bewundernd von ihrer stolzen schönen Er
scheinung und Güte. Ich beschenkte sie, ich schenkte ihr Schmuck, auch nahm ich sie auf Autofahrten mit, wobei ich den Eindruck, eine Statue anstelle eines Menschen oder gar einer mütterlichen Person mitzuführen, nie los wurde. Nur einmal, in vorgerücktem Alter, als sie wieder berufstätig wurde und als Sekretärin oder dergleichen eigenes Geld verdiente und mich zu wunderbaren Essen mit vielen Gemüsen und mehrerlei Fleisch einlud, sah ich sie vorübergehend als selbständige Erwachsene oder gar Mutter. Letztlich ist sie wohl immer ein in die Jahre gekommenes Mädchen ohne eigene Meinung geblieben, leicht verschüchtert, in einem falschen Stolz aufrecht, gierig nach Aufmerksamkeit, ausgehungert mangels Bewunderung, so etwas.
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Um auf den frühen Blick zurückzukommen und damit auf die Elternkonstellation: nicht nur kein Familienleben, nicht nur eine emotional unerreichbare, in sich eingeschlossene Mutter, nicht nur einen mehr oder weniger abwesenden Vater, in seiner Krankheit zunehmend verschwindenden Vater mit dem Hintergrund des Landesfremden, sondern: so gut wie kein Kommunizieren zwischen den Elternteilen, nichts, das von einem Paar kündete, kein Fünkchen zwischen Mann und Frau, nicht das geringste erotische Knistern, nichts. Von daher kein Eltern paar , wenn auch Vater wenigstens in dem ihn mit Hochachtung und Ehrerbietung begegnenden Benehmen der GroÃmutter, die ihn nie duzte, etwas darstellte. Ich kann mich an keinen Wortwechsel zwischen Vater und Mutter erinnern.
Erinnern kann ich mich an den mit Onkeln, Tanten, Kusinen und Cousins bevölkerten langen Kaffeetisch am freien Sonntagnachmittag, wo es hoch herging zwischen den Geschwistern, ein Lachen und Sich-Necken, eine Zurückversetzung in deren einstigen Familienzusammenhalt, wenn
nicht in deren Kindheit; und bei dieser Gelegenheit war Vater wiederum der Fremde, ein Anhängsel. Er saà gut angezogen und in seinem merklich anderen Umrià (Hintergrund) dabei, doch gehörte er gar nicht wirklich dazu.
Wir Kinder genossen neben der Fülle von Kuchen und Schleckereien die immer mehr ausartende Verwandten-Zusammengehörigkeit und vor allem die SpäÃe, den Unsinn. Auch bei solcher Gelegenheit schienen Vater und Mutter nicht wirklich ein Paar.
Wenn ich zurückdenke, muà das im Kleinkindalter gewesen sein, denn später war Vater zu gröÃten Teilen bettlägerig, und in meinem zwölften Lebensjahr starb er.
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Was ich jetzt im Zusammenhang mit der Maria- Geschichte notieren will, ist der Aspekt der Ausbeutung. Ich komme darauf zurück, nachdem ich neulich nachts einen Film von Mauro Bolognini mit Titel Bubu de Montparnasse gesehen habe. Ãbrigens bin ich bereits bei dem Film La ragazza con la valigia mit Claudia Cardinale auf den Gesichtspunkt des MiÃbrauchs verfallen, der damit zu tun hat, daà jugendliche Liebhaber oder besser Freier bei schönen, blutjungen Freudenmädchen ja nicht einfach den Leib, die körperliche Liebe kaufen, sondern darüber hinaus in die Präliminarien der wirklichen Liebe, wie sie glauben möchten, oder doch der echten Verliebtheit eintreten und insofern die Geschäftsregeln brutal
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