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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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könnt ihr euch am besten als guten 70jährigen (Über-)Lebenden vorstellen«, woraus ein Rätselraten und Prophezeien von Todesstunden wird. Ich kam mir irgendwie mißbraucht und jedenfalls als Verräter (an meiner Welt und an den Werten, an die ich glaube) vor. Feig, weil ich nicht wagte, dem lieben Wohltäter aufzukündigen.
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    Erster Schnee. Das Schneelicht in engen Gassen merkwürdig hellgrau, sauber (hat man den Eindruck), wie geschrubbt, aromatisch (wenn es das geben sollte). Ich stecke in langweiligen Arbeiten: Zurechtmachen eines alten Aufsatzes (über Künstlerkolonien). Muß mich sehr beherrschen, weil mich das Abschreiben und Überarbeiten anödet wie der Aufsatz selbst, der mir verblasen und pubertär erscheint. Morgen noch eine entsprechende Adaption des Aufsatzes über den Kulturbahnhof Rolandseck für die Kunstnachrichten von Peter Friedrich Althaus. Geldarbeit.
    Dieses Jahr war's ja diesbezüglich besonders hart. Von ganz wenigen Weltwoche -Artikeln abgesehen, habe ich nur von Bildverkäufen, also Eigentumsveräußerung, und Bankkrediten gelebt. Jetzt sieht's besser aus: Vorschuß auf die spanische »Liebesgeschichte« (Barcelona-Story) in Aussicht. Dann: eine Summe aus städtischem Literaturpreis. Vielleicht noch etwas Entsprechendes von Bern, wer weiß. Und die Tantiemen von Im Hause enden die Geschichten stehen noch aus. Erste Abrechnung im Frühling. Mit anderen Worten: Einkünfte aus literarischer Tätigkeit und, was das einzig Erfreuliche ist, für literarische Arbeit.
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    Rückblickend waren die sechziger Jahre nach dem Start mit Canto wirklich Talwanderungen. Ehe und Familie zerbrochen. Fronarbeiten, Anmarsch zur Literatur via Kritik, Essayistik, Journalismus; Kuhn-Buch, Skira-Buch, Diskurs in der Enge : alles auf das Haus -Buch hin. Jetzt wäre ich also wieder bei der Literatur nach einem vollen Jahrzehnt, mein Gott.
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    Canetti war bei mir. Suchte mich darin zu bestärken, daß ich eine ausgesprochene Begabung für Figuren besäße. Er kenne außer sich überhaupt niemanden, der so übertreibend (wie es alle Dichter seit je gemacht hätten, insbesondere die Russen) über Menschen erzählen könne. Ich solle mich dieser Begabung bedenkenlos ausliefern. Die Kunst stelle sich in meinem Fall ganz von selbst ein. Ich könne bedenkenlos ausgeben.
    Er hat's fast beschwörend gesagt. Sein Fixieren, der Nachdruck auf das Gegenüber. Damit man wirklich merkt, wie ernst er es meint. Dann wieder sein Nachsinnen mit schräg gestelltem Kopf und wägend runterwärts gerichteten Au
gen, dann wieder das Lachen, das ihn den Kopf verwerfen läßt. Und dies alles auf seinem gewaltigen Oberleib. Darüber das Strindberg-Gesicht. Seine Mutter liebte Strindberg über alles. Vielleicht ist er, der es seiner Mutter als Kind immer recht machen wollte (er wollte einfach vor ihr bestehen), ihr zuliebe in diese Gesichtsverwandtschaft gewachsen.
    Man fühlt sich wunderbar gehalten und gesteigert in seiner Gegenwart und im Guten bestätigt. Schwer zu sagen, die Erscheinung und Wirkung Canettis.
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    Man gehört als sozusagen anerkannter Writer zu einer sogenannten »Elite«. Man wird allerorten aufgefordert, sein Votum abzugeben, Stellung zu nehmen. Und der Briefkasten ist andauernd voller Anfragen, Einladungen, Aufforderungen zu irgendwelcher Mitarbeit. Viel ehrenamtliche Arbeit, auch Rampenlicht. Voilà. Aber privat –
    Nun: eine Art Studentenbude. Zu einer richtigen Wohnung reicht es nicht. Kein Bad, nicht der geringste Komfort. Überhaupt nichts auf der hohen Kante. Von der Hand in den Mund von Monat zu Monat. Das Dastehen im Rampenlicht ist purer Bluff.
    Dieser Kontrast wirkt sich als Unglaubwürdigkeit aus nach außen und nach innen manchmal als Verunsicherung.
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    Was für eine Lebensform: kommode Boardinghouse-Existenz in London, in weiß gestrichenem Haus in Paddington und zu dieser Straße zu gehören, zu diesen Anwohnern (wo keiner weiß, daß ich gar nicht dazu gehöre), diese Verkehrsmittel (Underground und Bus) zu benützen, diese Läden, die Ohren in dieser Sprache zu baden … Irgendwie »Wohnen in Luft«, jedenfalls nicht mehr eingehöhlt in den Burgen des Bekannten und Beschwerlichen zu Hause …
    Es ist nicht wie »entwurzelt«, es ist befreit, herrlicher Schwebezustand, wo sich nur noch

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