Die Belagerung der Welt - Romanjahre
geprägten Gesicht, das mir aus unerreichbarer, geradezu historischer Ferne bekannt ist, an mir vorbei. Das war viel aufregender, als wenn man in Paris Sartre sieht.
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Bin aggressiv, weil depressiv; warum ist nicht ganz einzusehen. Wieder mal Schreibhindernisse, die ich mir teils selbst zuzuschreiben habe. Offenbar war die Verschiebung meines Buches ein Schock. Alles gerät dadurch durcheinander: meine Jahresplanung, mein Einkommen (keine Aussicht auf Preise), mein Gefühl â ich war dermaÃen in Erwartung des Neuauftauchens mit meinem Buch, auch was die Resonanz betrifft, daà ich jetzt in einem Tal und Niemandsland stecke. Die schöne Arbeitswelt, dieser Brutkessel, ist zerschlagen.
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Gestern konnte mich Dr. Fortunat Mühlon nicht drannehmen, weil er betrunken war, wie er sagte. Er war betrunken, weil vor seinem Fenster ein Spatz an einem Ast hing, der immer wieder herunterfiel vom Zweig und sich eben noch auffing und also wie ein Reckturner die Rolle machte, nicht fliegen konnte, es war ungewiÃ, ob er verletzt war, aber die Angst des Spatzes paralysierte den Arzt Mühlon, da er nicht einzugreifen wagte (er befürchtete, das Vögelchen habe den Schwanz oder einen Flügel ab und er hätte nicht helfen kön
nen). Die vogelgroÃe Angst und Ohnmacht vor Augen, das Leiden, das an den Arzt appellierte, der nicht wuÃte, ob er »der Natur ihren Verlauf lassen« sollte oder eingreifen müÃte, trieb ihn in die Alkoholflucht, so daà wir nur miteinander sprachen und von einer Behandlung keine Rede sein konnte. Er sagte die Patienten ab. Heute teilt er mir mit, die Putzfrau habe das Spätzchen befreit; es war mit einem Nylonfaden an den Zweig gebunden und habe sich mit all diesen Reckrollen immer stärker gefesselt. Der Vogel muà den Faden für den Nestbau aufgegriffen und mitgeführt haben. Er verfing sich am Ast. Ein FüÃchen war gebrochen. Eine Tierliebhaberin hat den Piepmatz in Pflege genommen. Das mit dem Nylonfaden passiere sehr häufig, sagte jemand.
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Frl. Frieda, langjährige Haushälterin von Frau Dr. Gäumann, der Gattin des weltberühmten Botanikers Prof. Gäumann (Gäu), selber namhafte Kunsthistorikerin, standhafte, mundstarke Dame von 77 Jahren â¦, Frl. Frieda, die 32 Jahre lang Haushälterin bei Gäumanns war ⦠rotgesichtige pummelig untersetzte herrschsüchtige Person wie aus altem Sittenbuch, hat kürzlich ihre Herrin angefallen. Erst gingen Tage voraus, da sie im Haus rumorte, Selbstgespräche führte, die Treppen rauf und runter stampfte, dann sich einschloà und schrie. Einmal habe sie in der Küche alles Erreichbare ausgeschüttet, zu Boden geworfen, alle GefäÃe geleert, ein unbeschreibliches Chaos von Bodensatz angerichtet und dann geweint und weinend gesagt: »Und das mache ich, die ich immer so sparsam war.« Dann habe sie auch in anderen Zimmern alles demoliert, unter anderem die Vorhänge samt Vorhangstange heruntergerissen, alle Bilder abgehängt, alles Mobiliar verschoben, aber eigentlich wenig zerstört, und dann sei sie in Frau Dr. Gäumanns Zimmer, Studierzimmer, eingedrungen mit dem hochdeutschen Kampfruf »Ich
muà Sie töten«. Sie ist anscheinend in Deutschland aufgewachsen, habe aber nie, nie in all ihren Haushälterinnenjahren deutsch gesprochen. »Ich muà Sie töten«, schrie sie und stürzte sich auf ihre Herrin, krallt sich mit dreifachen Wahnsinnskräften an deren Schultern fest und beginnt das folgende Ritual: »Beten Sie. Sprechen Sie mir alles folgende nach« (und würgt und würgt â aber nicht am Halse). Und dann habe sie allerhand Zeugs von einem Oberrabbiner Schuler und einem Graf Wildenstein, insgesamt allerlei Kitsch aus Heftchen, vorgebetet, und Frau Dr. Gäumann hat alles wiederholt, in Panik, aber nicht in Todesangst, wie sie sagt. Dann sei der Stuhl kaputtgegangen, sie zu Boden gekippt und die Magd auf sie drauf, erst weiter würgend, dann mit Küssen beginnend.
Ein Zimmerherr habe alles gehört, aber nicht reagiert. Sonstwer lief hinzu, fand die Tür verschlossen, alarmierte die Polizei und lief hinaus, irgendwelche Gärtner zu holen. Die hätten die Tür aufgebrochen und Frau Dr. Gäumann befreit. Als die Polizei anfuhr, fand man Frieda in betender Stellung im Schlafrock auf der StraÃe Parkring. Sie lieà sich abführen und ist jetzt im
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