Die Belagerung der Welt - Romanjahre
auf die lokale Bedeutung.
Bei Canetti konnte ich aus mir herausgehen. Wir erzählten
uns Menschen, und in seiner Gegenwart erlangten sie die Bedeutung von Charakteren. In seiner Gegenwart war alles interessant, das AuÃerordentliche wie das Gewöhnliche, alles gewann Dramatik und Fabelhaftigkeit, Umrià und Dimension, Abenteuerlichkeit, alle Langeweile verflog, das Leben war hinreiÃend in seiner Gegenwart, reich und tief, wunderlich und gefährlich, unter keinen Umständen neutral.
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Waren in Nîmes und nahmen teil an der Feria, am Stierkampf-Festtreiben, an der Corrida. Und sahen die fliegenden Flamingos, das Rosa wie von zartester Unterwäsche, die ewiglangen gereckten Hälse; wenn man sie weit oben fliegen sah, steht die Welt Kopf. Zartes Unglaublichkeitsgefühl.
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Das verfluchte Alter schleicht auf einen zu, könnte man sagen. Ich dachte heute morgen erstmals mit Schrecken daran â genauer daran, daà ich jetzt den 60 näher bin als den 50 und daà nach Ãberschreitung der 60 die 70 winken, eine Greisenjahrzahl; ich komme darauf, weil mir Odiles Mutterschaftspanik mein Alter verdeutlicht. Höchste oder besser allerhöchste Zeit im Sinne von letzte Frist für ein Kind, besonders mit einem Vater in den 60ern, 70ern, einfach lächerlich; von allem anderen ganz zu schweigen, nämlich von den Lebensumständen, kurzum: Plötzlich sehe ich (endlich) alles ganz deutlich, ganz plastisch. Man müÃte ein Zimmer mehr haben für das Kind, also Geld, um etwas hinzuzuerwerben, aber wir haben eine Menge Schulden vom Wohnungsumbau, die erst einmal abbezahlt werden wollen, und woher mehr Geld nehmen, da meine Produktion nach wie vor eher stagniert als akzeleriert und mein materieller
Erfolg als Schriftsteller konstant bescheiden bleibt. Beengung in jeder Hinsicht, und nun die Vorstellung der Kleinfamilie, eines Babymittelpunkts mit Geschrei und Windeln und Sorgen, die einem jungen Ehepaar anstünden, genug! Sehe auf einmal alles von Odiles Standpunkt aus, ihre Ungeduld, Enttäuschung, ja Verbitterung (zeitweise) â darüber, wo diese verrückte Liebe hingeführt hat. Unser EngpaÃ, unsere Sackgasse.
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Ich hocke da in Klausur mit den obligaten Anfangsschwierigkeiten und lese, aus welchem Grund oder Zufall immer, Goethes Dichtung und Wahrheit . Und staune.
Vor allem staune ich über das nach auÃen gerichtete Interesse von Kind auf, das vielfältige Sachinteresse, die Weltneugierde, das Phänomen Bildung und Selbstverwirklichung. Theater und Zeichnen schon in jüngsten Jahren, dazu die Sprachen: natürlich Latein und Griechisch, aber auch Englisch und Französisch, dann aus eigner Neugierde Hebräisch, woraus gleich die Erzählung, Nacherzählung aus dem alten Testament, der Entstehung und Geschichte des Volkes Israel resultiert. Natürlich ist er in der antiken Mythologie und Philosophie schon im Knabenalter bewandert, aber auch, indem er seinem Vater an die Hand geht, in der Jurisprudenz; er interessiert sich für Architektur und alle Handwerksarten, für Naturwissenschaften. Sein Märchen »Der neue Paris«, im Alter von acht Jahren gesponnen, wenn ich nicht irre, ist schlicht wunderbar und makellos. Hinzu kommen die Disziplinen der körperlichen Ertüchtigung wie Reiten und Fechten. Was aber das Erstaunlichste ist: die Einbindung der individuellen Entwicklung, des individuellen Bildungs romans in den Gang und die Vielfalt des sozialen und geschichtlichen, politischen Zusammenhangs. Die Beschreibung der Kaiserkrönung in Frankfurt (Joseph II .)
bis in alle Einzelheiten von Kleidung und Insignien des ständischen Welttheaters belegt die ungetrübte Freiheit und Reinheit dieses Interesses aufs erstaunlichste. Die Vollständigkeit dieses Mannes schon in der Anlage, die Ausgewogenheit der Talente und Kräfte, der »Natur« Goethe. Natürlich hat dieser Mann einen denkbar privilegierten Familien- und Herkommenshintergrund. (Im Unterschied zu einem Karl Philipp Moritz.)
Ich lese voller Spannung, kann kaum aufhören. Und dabei denke ich an mein eigenes Kreuz der Interesselosigkeit.
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Onkels Haus war in dem verschlafenen, wiewohl fetten Dorf Täuffelen, einem damals noch reinen Bauerndorf nah am Bielersee, der einzige Fremdkörper. Die Höfe lagen weit auseinander und waren stattlich, die Bauern wohlhabend, das Land flach, Seeland heiÃt die Gegend.
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