Die Beschützerin
»Ich muss los. Danke für den Abend.«
Ich sah sie erstaunt an. Vorhin hatte sie noch begeistert über das Konzert gesprochen, ein Leuchten in den Augen. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Hatte sie sich über irgendetwas geärgert? Vielleicht über Carl?
Sie stützte sich mit der Hand auf einem Barhocker ab, als suche sie Halt.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte ich vorsichtig.
»Mir ist nur ein wenig schwindelig.«
Schon wieder? Das Problem hatte sie doch erst gestern im Sender gehabt. Ich überlegte, wie viel sie getrunken hatte, aber mehr als zwei oder drei Biere konnten es nicht gewesen sein.
»Soll ich nicht besser mitkommen?«
»Nein, nicht nötig. Ich hab es ja nicht weit.«
Sie klang abweisend. Etwas stimmte nicht mit ihr, aber offenbar wollte sie in Ruhe gelassen werden.
»Dann kommen Sie gut nach Hause. Wir sehen uns morgen früh.«
Vanessa Ott nickte stumm und strich sich wieder eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Eine vertraute Geste. Aber jetzt war etwas anders. Ich starrte auf ihren Unterarm. Auf dem hellen Ãrmel war ein länglicher, dunkelroter Fleck. Ich erschrak. Es sah aus wie Blut. »Haben Sie sich verletzt?«
Das Grün ihrer Augen war hell und eisig wie ein Gletschersee. »Nein.« Sie presste den Arm an ihre Hüfte. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
3
Mark Winter blätterte nervös in einem Stapel Unterlagen. Er saà mir gegenüber am Tisch. Wir hatten uns pünktlich um acht getroffen, nur Vanessa Ott war noch nicht da. Es vergingen einige Minuten. Mark Winter stellte mir Fragen zu den administrativen Kosten des Smiling Kids Day, aber meine Antworten schien er kaum zu hören. Er sah auf die Uhr und seine Brauen senkten sich. Es war Viertel nach acht.
»Merkwürdig, dass Frau Ott nicht angerufen hat«, meinte er. »Sie kommt sonst nie zu spät.«
Er klappte sein Notebook auf und vertiefte sich in irgendetwas auf seinem Bildschirm.
Ich unterdrückte ein Gähnen und tat so, als würde ich ebenfalls etwas auf dem Rechner lesen. In Wirklichkeit hatte ich genug damit zu tun, den gestrigen Abend zu verarbeiten. Sebastian und ich hatten uns ein gemeinsames Taxi nach Hause bestellt, nachdem Carl sich bereit erklärt hatte, den beladenen Bandtransporter mitzunehmen. Elena wollte zur S-Bahn. Sebastian und sie hatten sich zum Abschied umarmt.
»War ein klasse Gig«, meinte er, und Elena nickte.
»Wir sehen uns morgen um eins.« Als sie sich abwandte, war ihr Gesichtsausdruck traurig.
»Hey, Elena â¦Â« Sebastian warf ihr einen Handkuss zu. Sie lächelte und ging.
Sebastian bestand darauf, das Taxi zu bezahlen. Ich schloss die Haustür auf. Es ging schon auf halb zwei zu, und im Treppenhaus hörten wir keinen Laut. Und dann standen wir im Flur, rechts und links unsere beiden Wohnungstüren.
»Ich bin noch total aufgedreht«, meinte Sebastian laut. »Kommst du mit zu mir, auf ein Glas?« Er trat näher.
Ich war beschwipst und müde, aber gleichzeitig auch aufgekratzt.
»Ich sollte ins Bett gehen«, sagte ich und lehnte mich an meinen Türrahmen. Sebastian legte den Arm um meine Taille, zog mich an sich und küsste mich.
Warum hatte ich das zugelassen? Es war meine Stimmung gewesen, die ganze Atmosphäre, die Musik. Gregor würde nichts davon erfahren. Nichts war passiert. Ein winziger Flirt. Ein Kuss. Zugegeben, ein sehr erotischer Kuss.
Als Mark Winter sich laut räusperte, zuckte ich zusammen. Er zog sein Handy hervor und wählte eine Nummer, erreichte aber niemanden. Unsanft legte er das Gerät auf den Konferenztisch.
»Wollen Sie unser Meeting lieber verschieben?«, fragte ich und hoffte insgeheim auf eine halbe Stunde in meinem Büro, wo meine normale Arbeit sich stapelte.
»Sie geht nicht ans Handy«, sagte er, wie zu sich selbst. Er klang mehr besorgt als verärgert. Mir fielen Vanessa Otts unfreundliche Bemerkungen über ihn am gestrigen Abend ein. Und er saà hier und sorgte sich um sie. Er blickte wieder auf seinen Monitor, als hätte er meine Frage nach der Verschiebung nicht gehört. Ich dachte an Vanessa Otts plötzlichen und unterkühlten Abschied. An den mysteriösen roten Fleck auf ihrem Ãrmel. Die Kälte in ihrem Blick. Ich lieà noch einmal den gesamten Abend in meinem Kopf Revue passieren, jeden Satz, den wir gewechselt hatten. Irgendetwas musste ich gesagt haben, das sie in den
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