Die beste Lage: Roman (German Edition)
zusammengedrängte Schülerpack jeden bedachte, der das erlesene Epitheton »Grazia« trug, und womit es auch ihn lieber anredete als mit seinem vollständigen Namen, obwohl Graziantonio Dell’Arco – vierschrötig, stiernackig, breithüftig und mit buschigen Augenbrauen, die unter der niedrigen Stirn in einen undurchdringlichen Wald borstiger Haare hineinwuchsen – alles andere als feminine Züge aufwies, sondern bestenfalls an einen Yeti erinnerte, und das auch noch in einer Zwergenausgabe.
Auch die Mode war ihm, als er aufs Gymnasium übergewechselt war, nicht gerade entgegengekommen. Bart, lange Haare und Jeans mit Schlag passten hervorragend zu hageren Typen wie dem seinerzeitigen Wortführer Gian Ettore Orsenigro oder zu sportlichen Linken wie Ugo Rinaldi oder zu hochgewachsenen Typen mit romantischer Attitüde wie Riccardo Fusco oder zu eleganten Schlaksen wie Giacinto Cenere, aber für einen ungeschlachten Kerl wie ihn, der zudem noch einen flachen Hintern hatte, waren sie eine Katastrophe.
Die innere Stimme
Gewiss, schon damals vernahm Graziantonio in seinem Inneren hin und wieder eine Stimme. Eine Stimme, die rief – aber »rief« ist zu stark, sagen wir lieber, sie flüsterte –: ›Warum läufst du denn herum wie ein Hungerleider?‹ Oha, was für eine Wortwahl! Wenn ein Orsenigro oder ein Rinaldi das gehört hätten, dann wäre es ihm aber übel ergangen! Dabei hätte er in Jackett und Krawatte, wie die Schüler der englischen Colleges, wirklich viel besser ausgesehen, aber derart herumzulaufen, hätte eines Mutes bedurft, den er fürs Erste nicht aufbrachte. Besser also mit der Herde mitzutrotten, die ihn trotzdem wenig schätzte, wenn sie ihn nicht gar offen verachtete.
Wir können getrost sagen, dass Dell’Arcos Hauptbeschäftigung im ersten Abschnitt seines Lebens darin bestand, die Anerkennung der anderen zu suchen, und dass diese Bemühungen alle seine Entscheidungen bestimmten, von der Art zu denken bis zu seiner Garderobe, ja sogar bis zur Wahl des Studienfachs, denn am Ende schrieb er sich für Philosophie ein und bestätigte damit den Verdacht seines Vaters Michelantonio, der ihn immer schon für einen ausgemachten Idioten gehalten hatte. Ein Verdacht, der umso beängstigender war, wenn man bedachte, dass Graziantonio der einzige Spross seiner Lenden war – seine Frau war das, was man im Süden mit überflüssiger Gemeinheit als »Dörrfeige« bezeichnete – und folglich ein ebenso trauriges wie unabwendbares Ende des hochgeschätzten Geschlechts der Dell’Arco herbeiführen würde.
Ein Geschlecht, damit wir uns recht verstehen, echter Hurensöhne – und zwar, wie wir sehen werden, nicht nur im übertragenen Sinn –, unter denen Michelantonio sich ganz besonders ausgezeichnet hatte, denn ihm war es gelungen, selbst die widrigsten Wendungen des Schicksals zu seinem Vorteil umzubiegen, wie etwa damals, als ausgerechnet auf seinem Grund und Boden, einem der größten Landgüter der Gegend, Methangas entdeckt worden war. Ein Umstand, der – man bräuchte es eigentlich nicht besonders hervorzuheben – überall auf der Welt die Entstehung gewaltiger Reichtümer und Dynastien bedeutet hätte, über die man großartige Romane hätte schreiben und grandiose Filme hätte drehen können. Nicht aber in Italien, dem antiromanhaften Land schlechthin.
Der Texaner aus Ferrandina begegnet dem berühmten Kamel
Nicht so in Italien, diesem »Scheißland«, wie es Jahrzehnte davor ebenjener Michelantonio Dell’Arco viel prosaischer im Inneren eines Eisenbahnabteils ausgedrückt hatte, ohne verhindern zu können, dass er jedes dritte Mal, wenn er diese Invektive natürlich leise, aber doch nicht leise genug, ausstieß, den Abscheu seiner Reisegenossen erregte, unter ihnen auch die Ehefrau eines Abgeordneten der Democrazia Cristiana auf Dienstreise. Er befand sich auf der Heimreise von Rom, wo er bei einem Freund aus Kriegszeiten, inzwischen Inhaber einer gut eingeführten Anwaltskanzlei, gewesen war, um fern von indiskreten Ohren und zudem auch noch gratis Rat einzuholen, welche Dokumente er benötigte, um schnellstmöglich mit der Ausbeutung seiner Lagerstätten beginnen zu können.
Nicht also in Italien, diesem »Scheißland«, wo sich der Staat – und der befreundete Rechtsexperte hatte ihm lange den Rücken zugekehrt, ehe er den Mut fand, ihm dies zu eröffnen – sämtliche Ausbeutungsrechte selbst anmaßt, den rechtmäßigen Grundeigentümer enteignet und mit einer jämmerlichen
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