Die Bestie von Florenz
wird jedes Jahr von Tausenden von Touristen bewundert. Es wurde von zwei berühmten Renaissance-Architekten erbaut, auf den Resten einer Mauer aus dem zwölften Jahrhundert, die Perugia einst umgeben hatte; darunter lag das dreitausend Jahre alte etruskische Fundament aus massiven Steinblöcken, die zur Mauer der antiken Stadt Perusia gehört hatten. Über dem prächtigen Eingang des Gerichtsgebäudes steht die Statue einer Frau in einer Robe, das Schwert in der Hand, und lächelt geheimnisvoll auf alle hinab, die ihr Haus betreten; die Inschrift darunter bezeichnet sie als IUSTITIAE VIRTUTUM DOMINA, Herrin der Tugend der Gerechtigkeit. Sie wird von zwei Greifen flankiert, dem Wappen-tier von Perugia, die in ihren Klauen ein Kalb und ein Schaf halten.
Der Minibus hielt auf der Piazza vor dem Gerichtsgebäude, wo eine Traube Journalisten und Fernsehteams auf Spezi wartete. Dadurch wurden auch Touristen angezogen, die neugierig auf den berüchtigten Verbrecher waren, um den ein solcher Medienrummel veranstaltet wurde.
Die anderen Gefangenen wurden einer nach dem anderen zu ihren Verhandlungen abgeholt. Sie dauerten für jeden der Häftlinge etwa zwanzig bis vierzig Minuten und waren für niemanden zugänglich, weder die Presse noch die Öffentlichkeit, nicht einmal Ehepartner. Myriam kam mit dem Auto in Perugia an, setzte sich auf eine Bank im Flur vor dem Verhandlungsraum und wartete auf Neuigkeiten.
Um halb elf war Spezi an der Reihe. Er wurde aus dem Käfig geholt und zum Gericht hinaufgebracht. Er schaffte es, Myriam aus der Ferne zuzulächeln, als er hineingeführt wurde, und ihr mit erhobenen Daumen Mut zu machen.
Die drei Richterinnen saßen hinter einem langen Tisch. Es waren drei Frauen in traditionellen Richterroben. Spezi wurde mitten im Raum vor die Richterinnen gesetzt, auf einen harten Holzstuhl ohne Armlehnen und ohne Tisch vor sich. An dem Tisch rechts von ihm saßen der Chefankläger Mignini und seine Assistenten; links befanden sich Spezis Anwälte, inzwischen zu viert.
Statt zwanzig bis vierzig Minuten würde die Verhandlung siebeneinhalb Stunden dauern.
Später sollte Spezi über diese Verhandlung schreiben: »Ich habe keine vollständige Erinnerung an diese siebeneinhalb Stunden, nur Bruchstücke … Ich erinnere mich an die leidenschaftlichen Worte meines Anwalts Nino Filastò, der die gesamte Geschichte des Falls um die Bestie von Florenz und die Ungeheuerlichkeiten der Ermittlung kennt wie kaum ein Zweiter – ein Mann mit einem glühenden Gerechtigkeitssinn. Ich erinnere mich an das rote Gesicht Migninis, der sich über seine Unterlagen beugte, während Ninos Stimme durch den Raum donnerte. Ich erinnere mich an die großen Augen der jungen Gerichtsschreiberin, anscheinend erstaunt über die Inbrunst eines Anwalts, der darauf verzichtete, beschönigende Phrasen zu dreschen. Ich hörte Filastò den Namen Carlizzi erwähnen. Ich hörte Mignini sagen, dass ich leugnete, in den Mord an Narducci und den Fall der Bestie von Florenz verwickelt zu sein, doch ich ahne ja nicht, dass er, Mignini, ›äußerst heikles und sensibles Material‹ gegen mich in der Hand habe, das meine Schuld beweise. Ich hörte Mignini brüllen, dass in meinem Haus, ›versteckt hinter einer Tür, ein satanischer Kultstein gefunden wurde, den der Beschuldigte hartnäckig als Türstopper bezeichnet‹.«
Spezi erinnerte sich daran, wie Mignini mit bebendem Zeigefinger auf ihn zeigte und sich über »die unerklärliche Boshaftigkeit, mit der Spezi die Ermittlungen angegriffen« habe, ereiferte. Doch vor allem erinnerte er sich daran, was Mignini über »die äußerst gefährliche Manipulation von Informationen und den Medienzirkus, den dieses Subjekt erfolgreich inszeniert hat«, zu sagen hatte. Er erinnerte sich daran, wie Mignini brüllte: »Die Vorwürfe, die heute vor diesem Gericht erhoben werden, sind nur die Spitze eines Eisbergs von horrendem Ausmaß.«
Was Spezi am meisten überraschte, waren die vielen Parallelen zwischen Migninis Argumentation vor Gericht und den Anschuldigungen, die Gabriella Carlizzi einige Monate zuvor auf ihrer Verschwörungs-Website veröffentlicht hatte. Manchmal war sogar der Wortlaut sehr ähnlich, wenn nicht identisch.
Die drei Richterinnen in ihren Roben hörten gelassen zu und machten sich Notizen.
Nach einer Mittagspause wurde die Verhandlung fortgesetzt. Einmal stand Mignini auf und ging hinaus auf den Flur. Dort, vor dem Verhandlungsraum, hatte Myriam die ganze Zeit über
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