Die Bestie
Selbstvertrauen wuchs mit fortschreitender Erinnerung. Sein Gedächtnis war klar und ungetrübt, soweit es die Hauptereignisse betraf. Die Einzelheiten des eigentlichen Soldatenlebens waren verschwommen und weit entrückt. Doch das war verständlich. Da war die Reise nach Kanada, die er mit Anrella im vergangenen Jahr unternommen hatte. Sie war bereits ein nebelhafter Traum, von dem nur hier und dort geistige Bilder blitzartig aufleuchteten, die die Geschehnisse belegten.
Das ganze Leben besteht in dem Prozeß, die Vergangenheit zu vergessen.
Sein zweiter Brief war an die Statistische Sammelstelle für Geburtsurkunden in seinem Heimatstaat adressiert. »Ich bin am 1. Juni 1940 in Crescentville geboren«, diktierte er. »Bitte senden Sie mir sobald als möglich meine Geburtsurkunde.«
Er schellte nach Miß Pearson und gab ihr das Diktaphon-Band, als sie hereinkam. »Bitte verifizieren Sie diese Adressen«, instruierte er sie kurz. »Ich glaube, das wird einige Gebühren kosten. Machen Sie ausfindig, wieviel, legen Sie eine Geldanweisung bei und senden Sie beide Briefe per Luftpost.«
Er fühlte sich mit sich selbst zufrieden. Es hatte keinen Zweck, sich über diese Sache aufzuregen. Schließlich saß er ja nach wie vor fest im Sattel seiner Stellung, und seine Gedanken waren nüchtern und scharf. Es bestand nicht der geringste Anlaß, sich zur Nervosität zu steigern und andere Leute über seine mißliche Lage zu verständigen. Die Antworten auf seine Briefe würden bald eintreffen. Dann konnte man weitersehen.
Er nahm den Winthrop-Kontrakt zur Hand und begann zu lesen.
Zwanzig Minuten später wurde es ihm mit einem Schock bewußt, daß er den Hauptteil der Zeit damit verbracht hatte, sich angestrengt daran zu erinnern zu versuchen, was er im September 1973 gemacht hatte. Das war der Monat, in dem die Amerikaner die erste rollende Forschungsstation auf dem Mond gelandet hatten, drei Jahre nach den Sowjets. Pendrake rief sich die Schlagzeilen vor seine geistigen Augen zurück, wie er sie in Erinnerung hatte. Und da konnte kein Zweifel bestehen. Er hatte sie in Erinnerung, weil er sie gesehen hatte. Er konnte den September, der gemäß der Gehaltsbücher seinen ersten Monat bei der Nesbitt-Gesellschaft gebildet hatte, als festen Bestandteil der Kontinuität seiner augenblicklichen Existenz ansehen.
Wie stand es mit August? Im August war der innenpolitische Streit ausgebrochen, der beinahe die mächtige Union der Frauenvereine zum Platzen gebracht hätte. Und die Schlagzeilen hatten gelautet ... wie? Pendrake zermarterte sein Gedächtnis, doch kam nichts. Er dachte: Wie stand es mit dem 1. September? Wenn die Trennlinie zwischen August und September lag, mußte der 1. September möglicherweise etwas besonders Denkwürdiges verzeichnet haben, das ihn vor allen anderen Tagen kennzeichnete. Er war, wie er sich schwach erinnerte, um jene Zeit herum krank gewesen.
Sein Verstand war außerstande, jenen ersten Tag des Monats September heraufzubeschwören. Vermutlich hatte er ein Frühstück eingenommen. Vermutlich war er ins Büro gegangen, nachdem er von Anrella einen ihrer lange ausgedehnten Abschiedsküsse bekommen hatte. Seine Gedanken stockten mitten im Fluge. »Anrella!« dachte er. Sie mußte damals dagewesen sein, am 30. August und am neunundzwanzigsten, und im Juli, Juni, Mai, April, und noch viel früher.
Weder fand sich in seinem Gedächtnis die geringste Andeutung dafür, noch hatten ihre Handlungen in jenem wichtigen Monat September den geringsten Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß sie nicht schon seit Jahren verheiratet gewesen waren.
Infolgedessen ... wußte Anrella Bescheid!
Es war eine Erkenntnis, die ihre emotionellen Grenzen hatte. Die wunderlichen Sprünge und Hakenschläge, die sein Verstand beim ersten Gewahrwerden der Idee auszuführen begann, wurden im Netz einer ruhigeren Logik eingefangen und legten sich. Anrella wußte also Bescheid. Nun, warum auch nicht. Er hatte offensichtlich schon seit vielen Jahren in diesem Land gelebt. Wenn irgendwelche Veränderungen eingetreten waren, so hatten sie in seinem Geist stattgefunden, nicht in ihrem.
Pendrake blickte auf die Wanduhr; kurz vor zwölf. Er hätte gerade noch Zeit, zum Mittagessen nach Hause zu fahren. Normalerweise nahm er den Lunch in der Stadt ein, doch konnten die Auskünfte, die er benötigte, nicht warten.
Eine Anzahl gut aussehender Frauen stand im Korridor, als er dem Aufzug zustrebte. Das plötzliche Gefühl, daß sie ihm mit
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