Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Tattoo-Studio, deshalb habe ich es gewagt, mir das Symbol der Altruan stechen zu lassen– zwei helfend ausgestreckte Hände, eingerahmt von einem Kreis. Es ist riskant nach allem, was geschehen ist. Aber dieses Symbol ist ein Teil von mir, und es ist mir wichtig, dass ich es auf meiner Haut trage.
Ich steige auf eine Querstrebe und presse mich gegen das Geländer, um mein Gleichgewicht zu halten. Hier muss Al gestanden haben. Ich blicke hinunter auf das schwarze Wasser, die zerklüfteten Felsen. Wellen klatschen gegen den Stein, die Gischt sprüht herauf und macht mein Gesicht feucht. Hatte er Angst, als er hier stand? Oder stand sein Entschluss so fest, dass es ihm leichtfiel zu springen?
Christina gibt mir einen Stapel Papier. Es sind Exemplare sämtlicher Berichte der Ken in den letzten sechs Monaten. Ich weiß, selbst wenn ich sie in den Abgrund werfe, bin ich sie nicht für immer los, aber vielleicht fühle ich mich danach ein bisschen besser.
Mein Blick fällt auf das oberste Blatt Papier. Ein Bild von Jeanine, der Repräsentantin der Ken, prangt auf der ersten Seite. Ihre stechenden und doch schönen Augen schauen mich an.
» Bist du ihr je begegnet?«, frage ich Will. Christina zerknüllt den ersten Bericht und wirft ihn ins Wasser.
» Jeanine? Einmal.« Er nimmt den nächsten Bericht und zerreißt ihn. Er wirft die Schnipsel ins Wasser, allerdings ohne die boshafte Befriedigung, die Christina an den Tag legt. Ich habe den Verdacht, dass er nur deshalb hier ist, um mir zu beweisen, wie unangebracht er das verleumderische Vorgehen seiner früheren Fraktion findet. Ich weiß aber nicht, ob er nicht insgeheim ihre Meinung teilt, und ich zögere, ihn danach zu fragen.
» Ehe sie die Fraktion leitete, arbeitete sie mit meiner Schwester zusammen. Sie forschten an einem Serum für die Simulationen, dessen Wirkung länger anhalten sollte«, sagt er. » Jeanine ist so klug, dass man es ihr ansieht, ehe sie den Mund aufmacht. Wie ein… wandelnder Computer, der noch dazu spricht.«
» Was…«, ich werfe ein Blatt übers Geländer, » was hältst du von ihren Ideen?« So, jetzt habe ich die Frage gestellt.
Er zuckt mit den Achseln. » Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn nicht nur eine einzige Fraktion regieren würde. Und vielleicht wäre es auch ganz schön, wenn wir mehr Autos hätten und… frisches Obst und…«
» Du weißt aber schon, dass es keine geheimen Lagerhäuser gibt, in denen solche Sachen zurückgehalten werden, oder?« Ich gerate langsam in Wallung.
» Ja, aber für die Altruan sind Bequemlichkeit und Wohlstand belanglos, und vielleicht wären wir besser dran, wenn auch die anderen Fraktionen an der Entscheidungsfindung beteiligt wären.«
» Es ist ja auch wichtiger, dass ein junger Ken ein Auto hat, als ein Fraktionsloser genug zu essen«, erwidere ich scharf.
» Immer mit der Ruhe«, sagt Christina und streicht sanft über Wills Schulter. » Das hier soll ein fröhliches Happening sein, bei dem wir symbolisch Papiere vernichten, und keine politische Grundsatzdebatte.«
Ich schlucke hinunter, was ich gerade sagen wollte, und konzentriere mich auf den Papierstapel in meiner Hand. Seit einiger Zeit berühren sich Will und Christina ziemlich oft wie zufällig. Mir ist es aufgefallen. Ihnen auch?
» Aber ich hasse sie wegen all dem Zeug, das sie über deinen Vater gesagt hat«, fährt Will fort. » Ich weiß beim besten Willen nicht, wozu solche schlimmen Verleumdungen gut sind.«
Aber ich weiß es. Wenn Jeanine die Leute davon überzeugen kann, dass mein Vater und die anderen Führer der Altruan korrupt und skrupellos sind, dann hat sie deren Unterstützung für einen Umsturz, falls sie das wirklich vorhat. Aber ich will nicht wieder streiten, also nicke ich nur und werfe die übrigen Blätter über die Brüstung. Sie flattern hin und her, hin und her, bis sie ins Wasser fallen. Am Ende der Schlucht werden sie aus dem Wasser herausgefischt und weggeworfen werden.
» Zeit, ins Bett zu gehen«, sagt Christina und grinst. » Kommt ihr mit? Ich habe vor, Peters Hand heute Nacht heimlich in lauwarmes Wasser zu tauchen, damit er ins Bett pinkelt.«
Ich drehe mich um und sehe, wie sich am rechten Rand der Grube etwas bewegt. Eine Gestalt klettert den steilen Pfad hinauf zur Glasdecke, und den geschmeidigen Bewegungen nach zu urteilen, bei denen die Füße sich kaum vom Boden abheben, weiß ich auch genau, wer es ist.
» Das klingt verlockend, aber ich muss mich
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