Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
was ich ihm gerade gestanden habe. » Jedes Mal, wenn du fühlst, dass ich atme, atmest du auch. Konzentriere dich darauf.«
» Okay.«
Ich atme tief, und seine Brust hebt und senkt sich mit meinen Atemzügen. Nachdem wir eine Zeit lang so geatmet haben, frage ich ihn: » Willst du mir nicht sagen, woher diese Angst kommt? Vielleicht hilft es, wenn wir darüber reden.«
Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie scheint es mir richtig, das zu sagen.
» Hm… okay.« Er atmet wieder mit mir im Takt. » Die Angst stammt aus meiner tollen Kindheit. Von den Strafen, die ich als Kind erhielt. Der kleine Schrank im Obergeschoss.«
Ich presse die Lippen zusammen. Ich erinnere mich daran, wie ich bestraft wurde– wie ich ohne Abendessen ins Zimmer geschickt wurde, wie man mir dies und das weggenommen, mich heftig gescholten hat. Aber in einen Schrank bin ich niemals eingesperrt worden. Was für eine Grausamkeit. Bei der Vorstellung zieht sich mir das Herz zusammen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, deshalb übergehe ich es.
» Meine Mutter hat unsere Wintermäntel in unserem Schrank aufgehoben.«
» Ich will…« Er schnappt nach Luft. » Ich will wirklich nicht mehr darüber reden.«
» Okay. Dann kann ich ja reden. Frag mich was.«
» Einverstanden.« Er lacht unsicher und wieder spüre ich den Hauch an meinem Ohr. » Warum rast dein Puls so?«
» Na ja, ich…« Ich suche nach einer Ausrede, damit ich nicht von seinen Armen reden muss, die er um mich geschlungen hat. » Ich kenne dich kaum.« Das war nicht besonders gut. » Ich kenne dich kaum und wir beide sind in einer Kiste eingezwängt, also wundert dich das?«
» Wenn du jetzt in deiner Angstlandschaft wärst, wäre ich dann auch darin?«, fragt er.
» Ich habe keine Angst vor dir.«
» Natürlich nicht. Aber das habe ich nicht gemeint.«
Er lacht– und plötzlich bersten mit lautem Knall die Wände und wir kauern in einem Kreis aus Licht.
Mit einem erleichterten Seufzer lässt Four seine Arme sinken. Ich rapple mich auf und klopfe mich ab, obwohl ich nirgends staubig bin. Ich wische mir die Hände an meiner Jeans ab. Weil ich ihn nicht mehr spüre, fühlt sich mein Rücken auf einmal kalt an.
Four steht vor mir. Seine Augen lachen, und ich weiß nicht, ob ich diesen Blick mag.
» Vielleicht bist du in Wahrheit eine Candor«, sagt er. » Du lügst nämlich entsetzlich schlecht.«
» Nein, die Candor sind bei meinem Eignungstest ziemlich deutlich ausgeschieden.«
Er schüttelt den Kopf. » Der Eignungstest sagt gar nichts aus.«
Ich kneife die Augen zusammen. » Was willst du damit sagen? War dein Test nicht der Grund, warum du jetzt bei den Ferox bist?«
Ich verspüre plötzlich große Aufregung, getrieben von der Hoffnung, dass er mir vielleicht gesteht, ebenfalls ein Unbestimmter zu sein, dass er wie ich ist, dass wir zusammen herausfinden könnten, was es bedeutet.
» Nicht unbedingt, nein«, antwortet er. » Ich…«
Er schaut über die Schulter und verstummt. Ein paar Schritte von uns entfernt steht eine Frau und zielt mit einem Gewehr auf uns. Sie bewegt sich nicht, ihre Gesichtszüge sind unauffällig– wenn wir jetzt weggingen, könnte ich mich nicht mehr an sie erinnern. Rechts taucht ein Tisch auf. Auf ihm liegen ein Gewehr und eine einzige Kugel. Warum drückt die Frau nicht ab?
Oh. Die Angst hat nichts mit der Todesdrohung zu tun, sondern mit dem Gewehr auf dem Tisch.
» Du musst sie töten«, sage ich leise.
» Jedes Mal wieder.«
» Sie ist nicht wirklich.«
» Sie sieht aber so aus.« Er beißt sich auf die Lippe. » Und es fühlt sich wirklich an.«
» Wenn sie wirklich wäre, dann hätte sie dich längst getötet.«
» Okay.« Er nickt. » Ich werde es… einfach tun. Das hier… ist nicht ganz so schlimm. Es versetzt mich nicht so in Panik.«
Weniger Panik, aber umso mehr Grauen. Ich sehe es ihm an, als er die Waffe nimmt und das Magazin öffnet, als hätte er es schon tausendmal gemacht– und vielleicht hat er das ja. Er schiebt die Kugel ins Magazin und legt die Waffe an. Er drückt ein Auge zu und atmet langsam ein.
Als er ausatmet, schießt er. Der Kopf der Frau wird nach hinten geschleudert. Ich schaue weg und höre, wie sie auf den Boden sackt.
Polternd fällt Four die Waffe aus der Hand. Wir starren auf die Tote, die vor uns liegt. Es stimmt, was er gesagt hat– es fühlt sich wirklich an. So ein Unsinn, mach dich nicht lächerlich.
Ich packe ihn am Arm. » Komm mit. Lass uns weitergehen.«
Ich zupfe ihn
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