Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
selbstlos ist, denkt viel zu wenig an sich selbst, als dass er sich wünschen könnte, tot zu sein. Wenn es jemals vorkäme, würde das zwar niemand laut sagen, aber jeder würde es denken.
» Seid mal alle ruhig!«, ruft Eric. Jemand schlägt auf eine Art Gong. Der Lärm verstummt augenblicklich, aber das Gemurmel geht weiter.
» Danke«, sagt Eric. » Wie ihr wisst, sind wir hier, weil Albert, einer von den Neuen, vergangene Nacht in die Schlucht gesprungen ist.«
Jetzt hört auch das Gemurmel auf, nur noch das Rauschen des Wassers ist zu hören.
» Wir wissen nicht, wieso er das getan hat«, fährt Eric fort, » und es wäre einfach, diesen Verlust von heute Nacht zu betrauern. Aber als wir Ferox wurden, haben wir nicht das bequeme Leben gewählt. Und die Wahrheit ist doch …« Eric lächelt. Wenn ich ihn nicht kennen würde, würde ich glauben, dieses Lächeln sei echt. Aber ich kenne ihn. » Die Wahrheit ist: Albert erkundet nun einen unbekannten, ungewissen Ort. Um dorthin zu gelangen, sprang er in einen gefährlichen Fluss. Wer von uns hat so viel Mut, diesen Sprung in die Dunkelheit zu wagen, ohne zu wissen, was ihn jenseits dieser Dunkelheit erwartet? Albert war noch kein richtiges Mitglied von uns, aber wir können sicher sein, dass er einer unserer Tapfersten war.«
Ein Schrei kommt aus der Mitte der Versammelten, ein lautes Triumphgeheule. Die Ferox jubeln in allen Stimmlagen, hoch und tief, fröhlich und traurig. Ihr lautes Brüllen hört sich an wie das Tosen des Wassers. Christina nimmt Uriahs Flasche und trinkt. Will legt ihr den Arm um die Schulter und zieht sie an sich. Überall um mich herum höre ich Gejohle.
» Wir feiern ihn jetzt und werden ihn nie vergessen!«, schreit Eric. Jemand reicht ihm eine dunkle Flasche und er hebt sie hoch. » Auf Albert, den Mutigen!«
» Auf Albert!« Alle um mich herum recken die Arme hoch und rufen seinen Namen. » Albert! Al-bert! Al-bert!« Sie skandieren den Namen, bis er gar nicht mehr wie ein Name klingt. Ihr Grölen ist wie der Urschrei eines vorzeitlichen Volkes.
Ich wende mich ab. Ich kann das nicht mehr ertragen.
Ich weiß nicht, wohin ich will, laufe einfach irgendwohin, nur weg von hier. Ich gehe den dunklen Gang entlang bis zu dem Trinkbrunnen, der in das blaue Licht der Lampe getaucht ist.
Ich schüttle den Kopf. Mutig? Mutig wäre es gewesen, zu seiner Schwäche zu stehen und die Ferox zu verlassen, egal wie beschämend das auch ist. Sein Stolz war es, der Al umgebracht hat, und das ist der wunde Punkt im Herzen eines jeden Ferox. Auch in meinem.
» Tris.«
Mit einem Ruck drehe ich mich um. Hinter mir, genau in dem blauen Lichtkreis, steht Four. Seine Augen liegen im Dunkeln, das blaue Licht zeichnet tiefe Schatten unter seine Wangenknochen und lässt ihn unheimlich aussehen. Mein Herz beginnt zu klopfen.
» Was machst du hier?«, frage ich. » Solltest du ihm nicht auch die letzte Ehre erweisen?«
Ich sage es, als hätte ich etwas Übelschmeckendes in meinem Mund und spuckte es aus.
» Solltest du das nicht auch tun?«, fragt er. Er kommt auf mich zu und jetzt sehe ich seine Augen. In diesem Licht sind sie fast schwarz.
» Ich kann ihm keine Ehre erweisen, wenn ich keine Ehrfurcht emfinde.« Als ich es sage, überkommt mich ein Anflug von Schuldgefühl, und ich schüttle den Kopf. » Ich habe es nicht so gemeint.«
» Aha.« Dem Blick nach zu urteilen, den er mir zuwirft, glaubt er mir nicht. Ich kann es ihm nicht verübeln.
» Das ist lächerlich.« Ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt. » Er stürzt sich in einen Abgrund hinab und Eric nennt ihn deswegen mutig? Ausgerechnet Eric, der wollte, dass du mit Messern auf Al wirfst?«
Mir wird übel. Erics falsches Lächeln, seine heuchlerischen Worte, seine verqueren Ideale– bei dem Gedanken daran möchte ich mich übergeben. » Er war nicht mutig! Er war niedergeschlagen und feige und hätte mich beinahe umgebracht! Sind das Dinge, für die wir ihm die Ehre erweisen sollten?«
» Was sollen sie denn sonst machen?«, fragt er. » Ihn verdammen? Al ist schon tot. Er kann es nicht hören und außerdem ist es ohnehin zu spät.«
» Es geht nicht um Al«, sage ich barsch. » Es geht um alle, die zuschauen. Um alle, denen es jetzt als ein möglicher Ausweg erscheint, sich in den Abgrund zu stürzen. Warum auch nicht, wenn man danach in den Augen aller ein Held ist? Warum nicht, wenn man auf diese Weise Ruhm erlangt? Das ist… ich kann nicht…«
Meine Wangen glühen
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