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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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Seite. Weil ich weniger groß und weniger stark bin als die anderen, schaffe ich es nicht, mich in den Wagen zu hieven. Ich pralle mit der Schulter gegen die Außenwand des Waggons und klammere mich an einen Griff neben der Tür. Meine Arme zittern, aber dann packt mich eine ehemalige Candor und zieht mich hoch. Nach Luft schnappend, danke ich ihr.
    Ich höre laute Rufe und drehe mich um. Ein schmaler, rothaariger Junge aus der Fraktion der Ken rudert wie wild mit den Armen und versucht, mit dem Zug Schritt zu halten. Ein brünettes Ken-Mädchen, das an der Tür sitzt, streckt die Hand aus, aber sie kriegt ihn nicht zu fassen, er ist schon zu weit zurückgefallen. Neben den Gleisen sinkt er auf die Knie und vergräbt den Kopf in den Händen, während der Zug einfach davonfährt.
    Ich fühle mich hundeelend. Der arme Teufel hat den ersten Aufnahmetest der Ferox nicht bestanden. Er ist jetzt fraktionslos. Das ist etwas, was jedem von uns passieren kann.
    » Alles in Ordnung?«, fragt mich das hilfsbereite Candor-Mädchen gut gelaunt. Sie ist groß, dunkelhäutig und hat kurze Haare. Ziemlich hübsch.
    Ich nicke.
    » Ich heiße Christina«, sagt sie und streckt die Hand aus.
    Es ist schon sehr lange her, seit ich jemandem die Hand geschüttelt habe. Die Altruan grüßen einander, indem sie sich als Zeichen des Respekts verbeugen. Unsicher nehme ich ihre Hand und schüttle sie zweimal. Ich hoffe, ich habe sie nicht zu fest oder zu schwach gedrückt.
    » Beatrice«, erwidere ich.
    » Weißt du, wohin wir fahren?« Sie muss schreien, denn der Wind pfeift immer heftiger durch die geöffneten Türen. Der Zug wird schneller. Ich lasse mich auf den Boden fallen, denn so kann ich das Gleichgewicht besser halten. Christina zieht eine Augenbraue hoch.
    » Wenn der Zug schnell fährt, zieht es stärker«, erkläre ich ihr. » Und bei starkem Wind kann man rausfallen. Also setz dich lieber.«
    Christina setzt sich zu mir, rutscht dann wieder ein Stück von mir weg, damit sie sich bequem an die Wand lehnen kann.
    » Ich schätze, wir fahren zum Hauptquartier der Ferox«, beantworte ich ihre Frage. » Aber ich habe keine Ahnung, wo das ist.«
    » Weiß das überhaupt jemand?« Sie schüttelt den Kopf und grinst. » Bei den Ferox hat man immer das Gefühl, als würden sie urplötzlich aus der Erde schießen.«
    Ein Windstoß fegt durch den Wagen, und alle, die stehen geblieben sind, verlieren den Halt und purzeln übereinander. Christina lacht. Ich kann nicht hören, was sie sagt, aber auch ich ringe mir ein Lächeln ab.
    Links von mir spiegelt sich das rötlich gelbe Licht des Sonnenuntergangs in den gläsernen Hausfassaden, undeutlich erkenne ich die Reihen grauer Häuser, die einmal mein Zuhause waren.
    Heute wäre Caleb an der Reihe, das Abendessen zu machen. Wer wird es an seiner Stelle tun– meine Mutter oder mein Vater? Und wenn sie sein Zimmer aufräumen, was werden sie dann vorfinden? Vermutlich jede Menge Bücher, die zwischen dem Kleiderschrank und der Wand oder unter seiner Matratze versteckt sind. Der Wissensdurst eines echten Ken füllt alle verborgenen Winkel seines Zimmers aus. Hat er schon immer gewusst, dass er diese Fraktion wählen würde? Wenn ja, weshalb ist mir nichts aufgefallen?
    Er hat einen erstklassigen Schauspieler abgegeben, so viel steht fest. Bei dem Gedanken daran wird mir schlecht. Ich habe meine Familie zwar ebenfalls verlassen, aber wenigstens habe ich mich nicht verstellt. Wenigstens wussten alle, dass ich nicht selbstlos bin.
    Mit geschlossenen Augen stelle ich mir meine Mutter und meinen Vater vor, wie sie schweigend am Esstisch sitzen. Ist das ein letzter Rest von Selbstlosigkeit, der mir bei dem Gedanken an sie die Kehle zuschnürt, oder ist es Selbstsucht, weil ich weiß, dass ich nie wieder ihre Tochter sein werde?
    » Sie springen ab!«
    Bei diesen Worten hebe ich erschrocken den Kopf. Mein Nacken ist ganz steif. Gut eine halbe Stunde lang kauere ich jetzt schon gegen die Waggonwand gelehnt auf dem Boden, höre dem brausenden Wind zu und sehe, wie die Stadt an uns vorbeiwischt. Ich setze mich auf. In den letzten Minuten ist der Zug langsamer geworden, der Junge, der so laut gerufen hat, hat also recht. Die Ferox in den Waggons vor uns springen aus dem Zug, während er an einem Hausdach vorbeifährt. Die Schienen verlaufen auf der Höhe des siebten Stockwerks.
    Allein bei der Vorstellung, aus einem fahrenden Zug heraus auf ein Hausdach zu springen und zu wissen, dass zwischen dem Zug und dem

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