Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
geschubst hat. Bevor sie es noch einmal versuchen können, springe ich ab. Diesmal bin ich auf den Schwung, den mir der fahrende Zug gibt, vorbereitet, ich laufe ein paar Schritte, um ihn abzufangen, aber ich bleibe auf den Beinen. Eine wilde Genugtuung erfasst mich. Es ist nur ein kleiner Fortschritt, aber ich fühle mich plötzlich wie eine Ferox.
Eine der gebürtigen Ferox legt Four die Hand auf die Schulter und fragt: » Damals, als deine Mannschaft gewonnen hat, wo hast du da die Flagge versteckt?«
» Es entspricht nicht dem Sinn des Spiels, dir das zu erzählen, Marlene«, erwidert Four kühl.
» Komm schon, Four«, quengelt sie und wirft ihm einen koketten Blick zu. Er schiebt ihre Hand weg, und aus irgendeinem Grund grinse ich übers ganze Gesicht.
» Am Navy Pier«, ruft ein anderer Ferox. Er ist groß, dunkelhäutig und hat schwarze Augen. Ein gut aussehender Typ. » Mein Bruder war in der Mannschaft, die gewonnen hat. Sie haben die Fahne beim Karussell versteckt.«
» Dann gehen wir dorthin«, schlägt Will vor.
Niemand hat etwas dagegen, also wenden wir uns nach Osten, Richtung Marschland, wo früher einmal der See war. Als ich noch klein war, habe ich immer versucht, mir auszumalen, wie es dort wohl ausgesehen hat, als es den See noch gab und als noch kein Zaun mitten im Schlamm stand, um die Stadt abzusichern. Aber es ist schwer, sich so viel Wasser an einem einzigen Ort vorzustellen.
» Hier in der Nähe ist das Hauptquartier der Ken, nicht wahr?«, fragt Christina und knufft Will.
» Ja. Südlich von hier«, antwortet er. Er schaut über die Schulter, und einen Moment lang ist sein Blick voller Sehnsucht. Dann ist der Augenblick auch schon vorüber.
Ich bin nur ungefähr eine Meile von meinem Bruder entfernt. Seit einer Woche sind wir uns nicht mehr so nahe gewesen. Ich schüttle den Kopf, um die aufkommende Wehmut zu vertreiben. An Caleb darf ich jetzt nicht denken, ich muss mich darauf konzentrieren, Phase eins zu schaffen. Ich darf überhaupt nicht mehr an ihn denken.
Wir überqueren die Brücke. Auch jetzt noch brauchen wir Brücken, denn der Schlamm ist zu weich, um drüberlaufen zu können. Ich frage mich, wie lange es schon her ist, seit der Fluss versiegt ist.
Sobald man die andere Seite erreicht hat, verändert die Stadt ihr Gesicht. Hinter uns sind die meisten Häuser bewohnt, und wenn nicht, so machen sie trotzdem einen gepflegten Eindruck. Vor uns liegt ein Meer aus bröckelndem Beton und Glasscherben. Es ist unheimlich, wie still es in diesem Teil der Stadt ist, es wirkt wie ein Albtraum. Man erkennt kaum, wohin man geht, denn Mitternacht ist schon vorüber und alle Lichter in der Stadt sind verloschen.
Marlene holt eine Taschenlampe hervor und sucht damit die Straße vor uns ab.
» Hast du Angst vor der Dunkelheit, Mar?«, neckt sie der dunkelhäutige Ferox.
» Wenn du auf Glasscherben treten willst, Uriah, nur zu«, fährt sie ihn an. Aber dann knipst sie die Lampe doch aus.
Ich habe festgestellt, dass echte Ferox die Neigung haben, die Dinge komplizierter zu machen, als sie sind, nur um ihre Unabhängigkeit von anderen unter Beweis zu stellen. Es erfordert keinen besonderen Mut, nachts ohne Taschenlampe durch dunkle Straßen zu laufen, es geht vielmehr darum, keine Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen, und sei es auch nur ein Lichtstrahl. Als Ferox müssen wir fähig sein, völlig allein klarzukommen.
Mir gefällt das. Denn vielleicht kommt der Tag, an dem es keine Taschenlampen mehr gibt, an dem niemand da ist, der einem hilft. Darauf will ich vorbereitet sein.
Die Gebäude erstrecken sich bis zum Rand des Sumpfs. Eine Landzunge reicht in das Marschland hinein, und darauf erhebt sich ein riesiges weißes Rad, an dem in regelmäßigen Abständen rote Gondeln hängen. Das Riesenrad.
» Stellt euch nur mal vor, damit sind die Menschen gefahren. Nur so zum Spaß«, sagt Will kopfschüttelnd.
» Das müssen wohl Ferox gewesen sein«, sage ich.
» Ja, wenn auch recht zahme.« Christina lacht. » Ein Riesenrad für waschechte Ferox hätte keine Gondeln. Man hätte sich einfach mit den Händen festhalten müssen, und dann ab in die Luft und viel Glück.«
Wir gehen den Pier entlang. Die Gebäude auf der linken Seite sind menschenleer, die Schilder heruntergerissen, die Fenster verschlossen, aber es herrscht Ordnung trotz der Leere. Wer auch immer diesen Ort verlassen hat, hat dies mit Bedacht und Ruhe getan. Es gibt Orte in der Stadt, die wüster aussehen als der
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