Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
weiß nicht, wie leicht es ist herauszufinden, was die anderen Fraktionen während der Initiation von ihren Anfängern verlangen, aber ich vermute, dass es so einfach nun auch wieder nicht ist.
» Ich bin eine der Letzten, Mom«, sage ich zögernd.
» Gut.« Sie nickt. » Die Letzten beobachtet niemand so genau. Was ich dich jetzt frage, Beatrice, ist sehr wichtig. Was war das Ergebnis deines Eignungstests?«
Toris Warnung schießt mir durch den Kopf. Sag es niemandem. Ich müsste ihr jetzt sagen, dass das Ergebnis mich für die Altruan bestimmt hat, denn genau das hat Tori ins System eingegeben.
Ich schaue meiner Mutter in die blassgrünen Augen, die von einem dunklen Wimpernschatten umgeben sind. Um ihren Mund hat sie Falten, aber davon abgesehen sieht man ihr das Alter nicht an. Wenn sie summt, werden diese Falten noch tiefer. Immer wenn sie Geschirr spült, summt sie vor sich hin.
Das hier ist meine Mutter.
Ihr kann ich vertrauen.
» Sie waren nicht eindeutig«, sage ich leise.
» Das habe ich mir gedacht.« Sie seufzt. » Viele Kinder, die bei den Altruan aufwachsen, haben dieses Ergebnis. Wir wissen auch nicht, warum. In der nächsten Phase deines Trainings musst du sehr vorsichtig sein, Beatrice. Sieh zu, dass du nicht auffällst. Versuche, irgendwo in der Mitte zu landen. Hast du verstanden?«
» Was ist los, Mom?«
» Mir ist es egal, für welche Fraktion du dich entschieden hast«, sagt sie und führt meine Hände an ihre Wangen. » Ich bin deine Mutter und ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht.«
» Sagst du das, weil ich eine…«, setze ich an, aber sie hält mir den Mund zu.
» Sprich dieses Wort nicht aus«, zischt sie. » Niemals.«
Tori hatte also recht. Es ist gefährlich, eine Unbestimmte zu sein. Ich weiß nur leider nicht, warum, und noch weniger weiß ich, was genau es bedeutet, so zu sein.
» Warum?«
Sie schüttelt den Kopf. » Das darf ich dir nicht sagen.«
Sie wirft einen wachsamen Blick über die Schulter, dorthin, wo man das Licht der Grube kaum noch sehen kann. Ich höre lautes Rufen und Reden, Gelächter und Schritte. Vom Speisesaal weht ein Duft herüber, süß und verlockend. Frisch gebackenes Brot.
Meine Mutter dreht sich wieder zu mir und sieht mich an, die Kiefer fest zusammengepresst.
» Ich möchte dich um etwas bitten«, sagt sie. » Ich darf deinen Bruder nicht besuchen, aber du kannst es tun, wenn deine Initiation beendet ist. Ich möchte, dass du zu ihm gehst und ihn bittest, das Simulationsserum, das für die Eignungstests verwendet wird, zu erforschen. Okay? Wirst du das für mich tun?«
» Nicht, solange du mir keine Erklärung lieferst, Mom!« Ich verschränke die Arme. » Wenn du willst, dass ich mich auf dem Gelände der Ken herumtreibe, dann musst du mir auch sagen, warum!«
» Das kann ich nicht. Tut mir leid.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und streicht mir eine Locke aus der Stirn, die sich aus meinem Knoten gelöst hat. » Ich muss jetzt gehen. Es ist besser für dich, wenn wir beide nicht allzu vertraut wirken.«
» Mir ist es egal, wie wir auf andere wirken«, sage ich.
» Das sollte es aber nicht sein«, erwidert sie. » Ich nehme an, sie überwachen dich bereits.«
Sie geht weg, und ich bin zu verblüfft, um ihr zu folgen. Am Ende des Gangs dreht sie sich noch einmal um und sagt: » Iss ein Stück Kuchen für mich mit, ja? Der mit Schokolade ist am besten.« Sie lächelt seltsam und sagt leise: » Ich liebe dich, weißt du?«
Dann ist sie weg.
Ich stehe allein in dem blauen Licht der Deckenlampe und mir wird schlagartig einiges klar.
Sie war nicht zum ersten Mal hier.
Sie hat sich an diesen Gang erinnert.
Sie weiß, wie es bei der Initiation zugeht.
Meine Mutter war eine Ferox.
16 . Kapitel
Während die anderen den Nachmittag mit ihren Verwandten verbringen, kehre ich in den Schlafsaal zurück. Al ist da, er sitzt auf seinem Bett und starrt auf die Stelle an der Wand, an der üblicherweise die Kreidetafel hängt. Four hat sie gestern abgenommen, um unsere Rangfolge nach Abschluss des ersten Ausbildungsabschnitts auszurechnen.
» Da bist du ja!«, sage ich. » Deine Eltern haben dich überall gesucht. Hast du sie getroffen?«
Er schüttelt den Kopf.
Ich setze mich neben ihn aufs Bett. Meine Beine sind nicht mal halb so kräftig wie seine, obwohl ich jetzt mehr Muskeln habe als früher. Er trägt schwarze Shorts. Sein Knie ist blau-violett und hat eine tiefe Schramme.
» Wolltest du sie denn gar nicht
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