Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
mir mit den Fingern durchs Haar und binde es zu einem Knoten. Rasch werfe ich noch einen prüfenden Blick auf meine Kleider– bin ich für meine Eltern ordentlich genug angezogen? Meine Hose liegt eng an und mein Oberteil ist so geschnitten, dass man mein Schlüsselbein sieht. Das wird ihnen nicht gefallen. Aber wen interessiert es, was ihnen gefällt? Ich schiebe entschlossen das Kinn vor. Das ist jetzt meine Fraktion. So zieht man sich in meiner Fraktion nun mal an.
Am Ende des Gangs bleibe ich stehen.
Familiengrüppchen stehen herum, die meisten sind Ferox. Sie kommen mir immer noch fremd vor– eine Mutter mit einem Augenbrauenpiercing, ein Vater mit einem tätowierten Arm, ein Anfänger mit violett gefärbtem Haar– und wirken trotzdem wie eine Bilderbuchfamilie. Drew und Molly stehen alleine in einer Ecke. Ich unterdrücke ein Grinsen. Wenigstens sind ihre Familien nicht gekommen.
Aber Peters Angehörige sind da. Er steht neben einem hochgewachsenen Mann mit buschigen Augenbrauen und einer kleinen, sanftmütig dreinblickenden Frau mit roten Haaren. Seine Eltern sehen ganz anders aus als er. Beide tragen schwarze Hosen und weiße Hemden, die typische Kleidung der Candor, und sein Vater redet so laut, dass ich ihn beinahe von da, wo ich stehe, verstehen kann. Ob sie wohl wissen, was für ein Mensch ihr Sohn ist?
Andererseits… was für ein Mensch bin ich denn?
Auf der anderen Seite der Grube steht Will bei einer blau gekleideten Frau. Sie ist zu jung, um seine Mutter zu sein, aber sie hat das gleiche Grübchen zwischen den Augenbrauen wie er, das gleiche goldblonde Haar. Er hat einmal davon gesprochen, dass er eine Schwester hat; vielleicht ist sie das.
Neben ihm umarmt gerade Christina eine dunkelhäutige Frau im Schwarz-Weiß der Candor. Hinter Christina steht ein junges Mädchen, ebenfalls eine Candor. Ihre jüngere Schwester.
Soll ich mir überhaupt die Mühe machen, mich nach meinen Eltern umzuschauen? Ich könnte mich einfach umdrehen und wieder in den Schlafsaal zurückgehen.
Dann sehe ich sie. Meine Mutter steht allein vor dem Geländer, die Hände vor der Brust gefaltet. Sie wirkt völlig fehl am Platz mit ihrer grauen Hose und der grauen Jacke, die bis zum Kinn hochgeknöpft ist, mit ihrer schlichten Frisur und ihrem sanften Gesichtsausdruck. Tränen schießen mir in die Augen. Sie ist gekommen. Sie ist meinetwegen gekommen.
Ich gehe schneller. Sie sieht mich, und einen Moment lang schaut sie mich ausdruckslos an, als würde sie mich nicht erkennen. Dann blitzen ihre Augen auf und sie breitet die Arme aus.
» Beatrice«, flüstert sie und streicht mir übers Haar. Sie riecht nach Seife und Waschpulver.
Fang nicht an zu weinen , sage ich zu mir selbst. Ich umarme sie, bis meine Augen nicht mehr feucht sind, und dann trete ich einen Schritt zurück, um sie anzuschauen. Ich lächle mit geschlossenem Mund, genau wie sie. Sie berührt meine Wange.
» Lass dich anschauen«, sagt sie. » Man könnte meinen, du bist gewachsen.« Sie legt mir den Arm um die Schulter. » Sag, wie geht es dir?«
» Du zuerst.« Da sind sie wieder, die alten Gepflogenheiten. Ich muss sie als Erste reden lassen. Ich muss achtgeben, dass sich die Unterhaltung nicht zu lange um mich dreht. Ich muss mich vergewissern, dass ihr nichts fehlt.
» Heute ist ein besonderer Tag«, sagt sie. » Ich bin gekommen, um dich zu besuchen, also lass uns zuerst einmal von dir reden. Das ist mein Geschenk für dich.«
Meine selbstlose Mutter. Sie soll mir nichts schenken, nicht, nachdem ich sie und meinen Vater verlassen habe. Ich schlendere mit ihr zum Geländer, von dem aus man hinunter in die Schlucht schauen kann, und bin glücklich, in ihrer Nähe zu sein. Wie gefühlsarm die letzten eineinhalb Wochen waren, spüre ich erst jetzt. Zu Hause haben wir uns gegenseitig nur selten berührt, meine Eltern haben sich höchstens einmal bei Tisch an den Händen gehalten, aber dennoch: Es war mehr als alles, was ich hier habe.
» Nur eine Frage.« Mir klopft das Herz bis zum Hals. » Wo ist Vater? Besucht er Caleb?«
» Ach.« Sie schüttelt den Kopf. » Dein Vater musste heute arbeiten.«
Ich senke den Kopf. » Du kannst es mir ruhig sagen, wenn er nicht kommen wollte.«
Ihr Blick wandert über mein Gesicht. » Dein Vater war in letzter Zeit recht selbstsüchtig. Aber das heißt nicht, dass er dich nicht liebt. Das kann ich dir versichern.«
Ich schaue sie erstaunt an. Mein Vater, selbstsüchtig? Noch verblüffender als dieser
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