Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
in den Schlafsaal zurückbringen muss. Selbst wenn mich unterwegs niemand sieht, sie werden es irgendwie herausfinden, sie werden über mich herziehen…
» Red nicht solchen Unsinn.«
Er packt mich am Arm und zerrt mich vom Stuhl hoch. Ich blinzle die Tränen weg, wische mir mit dem Handrücken über die Wangen und lasse es zu, dass er mich zur Hintertür führt.
Schweigend gehen wir den Gang entlang. Wir sind noch ein gutes Stück vom Schlafsaal entfernt, als ich mich aus seinem Griff befreie und stehen bleibe.
» Warum hast du das mit mir gemacht?«, frage ich ihn vorwurfsvoll. » Was für einen Sinn soll das haben? Ich wusste nicht, dass ich mich für wochenlange Quälereien entschied, als ich die Ferox wählte!«
» Hast du geglaubt, es sei einfach, seine Feigheit zu überwinden?«, fragt er ruhig.
» Das hatte nichts mit dem Überwinden von Feigheit zu tun. Wie man sich im wirklichen Leben verhält, das hat etwas mit Feigheit zu tun, aber im wirklichen Leben werde ich nicht von Krähen zu Tode gepickt!« Ich schlage die Hände vors Gesicht und fange an zu weinen.
Er sagt kein Wort, er steht einfach da und lässt mich weinen. Schon nach kurzer Zeit versiegen die Tränen und ich wische mein Gesicht trocken.
» Ich will nach Hause!«, sage ich tonlos.
Aber mein Zuhause gibt es für mich nicht mehr. Ich habe nur noch die Wahl zwischen den Ferox und den Elendsvierteln der Fraktionslosen.
Sein Blick ist nicht mitfühlend, er schaut mich einfach nur an. In dem düsteren Licht des Korridors sind seine Augen schwarz und sein Mund ist ein schmaler Strich.
» Wie man trotz großer Angst klar denkt, ist eine Lektion, die jeder, sogar deine Stiff-Familie, lernen muss«, erwidert er. » Und genau das versuchen wir dir beizubringen. Wenn du das nicht willst, dann sieh zu, dass du schleunigst von hier verschwindest, denn dann können wir dich nicht gebrauchen.«
» Ich versuche es ja.« Meine Unterlippe zittert. » Aber ich habe versagt. Ich versage immer.«
Er seufzt. » Wie lange, glaubst du, hat die Halluzination gedauert, Tris?«
» Keine Ahnung.« Ich schüttle den Kopf. » Vielleicht eine halbe Stunde?«
» Drei Minuten«, antwortet er. » Du warst dreimal so schnell wie die anderen. Was immer du auch sein magst, eine Versagerin bist du nicht.«
Drei Minuten?
Er lächelt ein bisschen. » Morgen wirst du noch besser sein. Du wirst schon sehen.«
» Morgen?«
Er legt mir die Hand auf den Rücken und führt mich zum Schlafsaal zurück. Durch mein T-Shirt fühle ich seine Fingerspitzen. Ihr sanfter Druck lässt mich einen Augenblick lang die Vögel vergessen.
» Was hast du in deiner ersten Halluzination gesehen?«, frage ich und schaue ihn dabei an.
» Es war ein Wer und kein Was«, sagt er achselzuckend. » Ist nicht weiter wichtig.«
» Und hast du diese Angst inzwischen überwunden?«
» Noch nicht ganz.« Wir sind an der Tür des Schlafsaals angelangt. Er lehnt sich an die Wand und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. » Vielleicht gelingt mir das nie.«
» Die Ängste verschwinden also nicht?«
» Manche verschwinden, manche werden durch neue Ängste ersetzt.« Er hakt seine Daumen in die Gürtelschlaufen. » Aber es geht nicht darum, all seine Ängste loszuwerden. Das ist unmöglich. Es geht darum zu lernen, seine Ängste zu beherrschen und sich von ihnen unabhängig zu machen. Das ist der springende Punkt.«
Ich nicke. Bisher habe ich immer gedacht, die Ferox hätten vor nichts Angst. So kommen sie einem jedenfalls vor. Aber vielleicht war das, was ich für Furchtlosigkeit hielt, in Wahrheit eine kontrollierte Furcht.
» Wie auch immer, deine Ängste sind selten das, als was sie dir in den Simulationen erscheinen«, erklärt er.
» Was meinst du damit?«
» Na ja, fürchtest du dich tatsächlich vor Krähen?«, fragt er mit einem leisen Lächeln. Seine Augen blicken jetzt so warm, dass ich glatt vergesse, dass er mein Ausbilder ist. In diesem Moment ist er nur ein Junge, der mit mir redet und mich nach Hause bringt. » Wenn du eine siehst, läufst du dann schreiend davon?«
» Nein, eigentlich nicht.« Ich verspüre den unwiderstehlichen Drang, ihm noch näher zu sein, ohne einen bestimmten Grund, ich will nur wissen, wie es ist, ihm so richtig nahe zu sein, einfach so. Mehr nicht.
Dummkopf, foppt mich eine innere Stimme.
Ich lehne mich neben ihn an die Wand und lege den Kopf schräg, damit ich ihn sehen kann. So wie schon am Riesenrad weiß ich ganz genau, wie viel Platz zwischen
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