Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Süßem, unverkennbar Männlichem.
Seine Atemzüge werden ruhiger, und ich stütze mich auf, um zu sehen, ob er schläft. Er liegt auf dem Bauch, einen Arm hat er über den Kopf gelegt. Seine Augen sind geschlossen, seine Lippen leicht geöffnet. Zum ersten Mal sieht er so jung aus, wie er wirklich ist, und ich frage mich, wer er ist, wenn er kein Ferox ist, wenn er kein Ausbilder ist, wenn er nicht Four, wenn er ganz und gar nichts Besonderes, sondern nur er selbst ist.
Wer er auch sein mag, ich mag ihn sehr. Jetzt fällt es mir leicht, es einzugestehen, hier im Dunkeln, nach allem, was passiert ist. Er ist weder süß noch liebenswürdig und schon gar nicht besonders nett. Aber er ist klug und tapfer, und obwohl er mich gerettet hat, hat er mich behandelt, als wäre ich stark. Allein das reicht mir schon. Mehr brauche ich über ihn gar nicht zu wissen.
Ich schaue zu, wie sich seine Rückenmuskeln beim Ein- und Ausatmen spannen und wieder entspannen, bis ich schließlich einschlafe.
Mit Schmerzen wache ich auf. Beim Aufsetzen zucke ich zusammen und presse die Hand gegen die Rippen. Mühsam schlurfe ich zu dem kleinen Spiegel an der Wand. Er hängt zu hoch, als dass ich richtig hineinschauen könnte, aber wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, sehe ich mein Gesicht. Wie nicht anders zu erwarten, prangt auf meiner Wange ein tiefblauer Fleck. Die Vorstellung, in diesem Zustand in den Speisesaal zu gehen, gefällt mir ganz und gar nicht, aber ich habe mir Fours Ermahnungen zu Herzen genommen. Ich muss das Verhältnis zu meinen Freunden wieder ins Lot bringen. Ich muss mich schwach zeigen, um besser geschützt zu sein.
Ich binde die Haare im Nacken zu einem Knoten, als die Tür aufgeht und Four hereinkommt. In der Hand hält er ein Handtuch, seine Haare glänzen noch vom Duschen. Er hebt den Arm, um seine Haare zu trocknen, und beim Anblick der haarfeinen Linie über seinem Gürtel spüre ich ein Kribbeln im Bauch. Ich zwinge mich, ihm ins Gesicht zu schauen.
» Hi.« Meine Stimme klingt gepresst. Ich wünschte, sie klänge anders.
Er berührt meine zerschundene Wange vorsichtig mit den Fingerspitzen. » Nicht schlecht«, sagt er. » Wie geht es deinem Kopf?«
» Gut.« Das ist eine Lüge– mein Kopf dröhnt. Ich streiche mit den Fingern über die Beule. Der Schmerz zuckt durch meinen ganzen Schädel. Es könnte schlimmer sein. Ich könnte jetzt im Fluss treiben.
Als er die Seite berührt, die den brutalen Tritt abbekommen hat, verkrampfe ich mich vor Schmerz. Er tut das beiläufig, aber ich bin trotzdem ganz steif.
» Und deine Seite?«, fragt er leise.
» Tut nur weh, wenn ich atme.«
Er lächelt. » Darauf kannst du nicht gut verzichten.«
» Peter würde wahrscheinlich eine Party schmeißen, wenn ich mit dem Atmen aufhörte.«
» Tja«, sagt er, » ich würde nur hingehen, wenn es Kuchen gibt.«
Ich lache– und zucke im selben Moment zusammen. Ich presse seine Hand gegen meine Rippen, um die Schmerzen wegzudrücken. Als er sie fortnimmt, verspüre ich ein Stechen in der Brust. Wenn dieser kostbare Augenblick vorüber ist, werde ich wieder daran denken müssen, was letzte Nacht geschehen ist. Am liebsten würde ich mit ihm zusammen hierbleiben.
Er nickt kurz und führt mich hinaus.
Vor dem Speisesaal bleibt er stehen und sagt: » Ich gehe zuerst hinein. Bis gleich, Tris.«
Er geht durch die Tür und ich bin allein. Gestern hat er zu mir gesagt, ich solle so tun, als sei ich schwach, aber er hat sich geirrt: Ich bin schwach. Ich lehne mich an die Wand und stütze meine Stirn in die Hände. Es fällt mir schwer, Luft zu holen, deshalb atme ich kurz und flach.
Ich darf es nicht zulassen. Sie haben mich angegriffen, um mich schwach zu sehen. Nur um mich zu schützen, muss ich jetzt so tun, als hätten sie damit Erfolg gehabt. Aber ich darf es nicht wahr werden lassen.
Ich stoße mich von der Wand ab und gehe in den Speisesaal, ohne noch einmal darüber nachzudenken. Nach ein paar Schritten fällt mir ein, dass ich mich wie ein geprügelter Hund benehmen soll, also schleiche ich mit gesenktem Kopf langsam an der Wand entlang. Uriah, der am Tisch neben Will und Christina sitzt, hebt die Hand und winkt. Dann lässt er sie wieder sinken.
Ich setze mich neben Will.
Al ist nicht da, er ist nirgendwo zu sehen.
Uriah plumpst auf den Stuhl neben mir. Seinen halb gegessenen Muffin und sein halb volles Glas Wasser lässt er an dem anderen Tisch zurück. Alle drei starren mich an.
» Was ist passiert?«,
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