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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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schwöre, es gibt dieses Mädchen, und ihm tut der bedauernswerte Junge, den es vor sich sieht, leid.
    Aber wenn ich diesem Mädchen jetzt begegnete, würde ich es nicht erkennen.
    » Hau ab«, sage ich leise. Ich bin entschlossen und ganz kühl, ich bin nicht wütend, bin nicht verletzt, ich bin gar nichts. Mit fester Stimme sage ich: » Komm mir nie wieder unter die Augen.«
    Wir sehen uns an, seine Augen sind dunkel und glasig. Ich bin ganz ruhig.
    » Wenn du es trotzdem tust, dann, das schwöre ich bei Gott, bringe ich dich um, du Feigling.«

24 . Kapitel
    » Tris.«
    Im Traum ruft mich meine Mutter. Sie winkt mir und ich gehe durch die Küche zu ihr. Sie zeigt auf den Topf auf dem Herd, und ich hebe den Deckel, um hineinzuschauen. Das kugelrunde Auge einer Krähe starrt mich an, ihre Flügel sind an den Topfrand gepresst. Die fette Krähe schwimmt im kochenden Wasser.
    » Abendessen«, ruft Mutter.
    » Tris!«, höre ich wieder. Ich öffne die Augen. Neben meinem Bett steht Christina, ihre Wimperntusche ist verschmiert und sie ist tränenüberströmt.
    » Es geht um Al«, sagt sie. » Komm mit.«
    Einige im Schlafsaal sind wach, andere schlafen weiter. Christina nimmt mich bei der Hand und zieht mich zur Tür hinaus. Barfuß renne ich mit ihr den Gang entlang. Ich blinzle mir den Schlaf aus den Augen, um richtig wach zu werden. Etwas Schreckliches ist passiert. Ich spüre es mit jedem Herzschlag.
    Es geht um Al.
    Wir laufen zur Grube, aber plötzlich bleibt Christina stehen. Eine Menschenmenge hat sich am Felshang versammelt, doch die Leute stehen so weit auseinander, dass ich genügend Platz habe, um an Christina und einem großen Mann mittleren Alters vorbei bis ganz nach vorne zu treten.
    Zwei Männer stehen dort. An Seilen hieven sie etwas nach oben. Sie keuchen vor Anstrengung, sie stemmen sich gegen den Boden, um das Seil übers Geländer zu ziehen, dann fassen sie nach. Eine riesige, dunkle Gestalt taucht auf, und ein paar Ferox laufen hinzu und helfen den beiden Männern, sie übers Geländer zu ziehen.
    Mit einem dumpfen Schlag fällt die Gestalt auf den Boden. Ein blasser Arm, aufgedunsen vom Wasser, schlägt auf dem Steinboden auf. Eine Leiche. Christina drückt sich an mich, klammert sich an meinen Arm. Sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter und schluchzt, aber ich kann den Blick nicht von dem Toten abwenden. Einige der Männer drehen ihn um. Der Kopf rollt zur Seite.
    Seine Augen sind offen und leer. Dunkel. Wie die Augen einer Puppe. Der Nasenrücken steht vor, der Nasenansatz ist schmal, die Nasenspitze rundlich. Die Lippen sind blau. Das Gesicht trägt kaum noch menschliche Züge, es wirkt halb tot, halb animalisch. Meine Lungen stechen. Wenn ich einatme, geht mein Atem keuchend.
    Al.
    » Einer der Neuen«, sagt jemand hinter mir. » Was ist passiert?«
    » Na was schon? Das Gleiche wie jedes Jahr«, antwortet ein anderer. » Er ist runtergesprungen.«
    » Sei nicht so zynisch. Es könnte ja auch ein Unfall gewesen sein.«
    » Man hat ihn mitten in der Schlucht gefunden. Glaubst du, er ist über seinen Schnürsenkel gestolpert und… schwups, ein gutes Stück nach vorne gefallen?«
    Christinas Hand klammert sich immer fester um meinen Arm. Ich sollte sie bitten, mich loszulassen; langsam tut es weh. Jemand kniet sich neben Al und drückt ihm die Augen zu. Es soll wahrscheinlich so aussehen, als schliefe er. So ein Unsinn. Wieso tun die Menschen so, als schliefe einer, wenn er tot ist? Er schläft nicht. Er schläft nicht.
    Etwas in mir bricht in Stücke. Meine Brust ist wie zugeschnürt, ich bekomme keine Luft mehr, ich ersticke. Ich sinke zu Boden, ziehe Christina mit mir hinunter. Die Steine unter meinen Knien sind hart. Ich höre etwas, nein, es ist eher eine Erinnerung an etwas, was ich gehört habe. Es ist Als Schluchzen, es sind seine Schreie in der Nacht. Ich hätte es wissen müssen. Ich bekomme immer noch keine Luft. Ich presse beide Hände gegen meine Brust und wiege meinen Oberkörper hin und her, um die unerträgliche Spannung zu lösen.
    Wenn ich blinzle, dann sehe ich Als Hinterkopf vor mir. Er trägt mich huckepack in den Speisesaal. Ich spüre seine federnden Schritte. Er ist groß und warm und tollpatschig. Nein, er war es. Das ist der Tod– wenn man statt ist war sagt.
    Ich hole tief Luft. Jemand hat einen großen schwarzen Sack gebracht, mit dem man den Leichnam wegträgt. Ein Lachen quillt aus mir heraus, gepresst, gurgelnd. Al ist zu groß für den Leichensack, ist

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