Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
das zu fassen? Ich halte die Hand vor den Mund und aus dem Lachen wird ein Wimmern. Ich mache mich los und stehe auf. Wortlos lasse ich Christina auf dem Boden sitzen und renne davon.
» Hier«, sagt Tori. Sie hält mir eine dampfende Tasse hin, die nach Pfefferminz riecht. Ich halte sie in beiden Händen, ihre Wärme strömt in meine Finger.
Tori setzt sich mir gegenüber. Wenn es um Beerdigungen geht, verschwenden die Ferox keine Zeit. Tori sagte, sie wollten sich dem Tod stellen, sobald er ihnen entgegentritt. Im Vorzimmer des Tattoo-Studios sitzen keine Leute, aber in der Grube wimmelt es von Menschen, die meisten sind betrunken. Ich weiß nicht, warum ich mich darüber wundere.
Zu Hause waren Beerdigungen eine ernste und feierliche Angelegenheit. Alle haben sich versammelt, um der Familie des Verstorbenen zu helfen, keiner war müßig, aber niemand lachte, niemand lärmte, niemand scherzte. Und bei den Altruan trinkt keiner Alkohol, deshalb ist auch keiner betrunken. Aber es hat wohl seinen Grund, dass Beerdigungen hier das genaue Gegenteil sind.
» Trink das«, sagt Tori. » Danach geht es dir besser. Das verspreche ich dir.«
» Ich glaube nicht, dass Tee mir helfen wird«, sage ich zögernd. Aber ich nippe trotzdem daran. Die Flüssigkeit wärmt meinen Mund und meine Kehle und rinnt in meinen Magen. Ich habe gar nicht gemerkt, wie kalt mir ist.
» Ich sagte › besser ‹ , nicht › gut ‹. « Sie lächelt mich an, aber anders als sonst treten keine Fältchen um ihre Augenwinkel. » Ich glaube, etwas Gutes wird uns eine ganze Weile nicht mehr zustoßen.«
Ich beiße mir auf die Lippe. » Wie lange… wie lange hast du gebraucht, bis es dir wieder besser ging, nachdem dein Bruder…«
» Ich weiß nicht.« Sie schüttelt den Kopf. » Manchmal denke ich, dass ich es immer noch nicht verwunden habe. An manchen Tagen geht es mir gut, da bin ich sogar glücklich. Aber es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich keine Rachepläne mehr geschmiedet habe.«
» Wann hast du damit aufgehört?«
Ihr Blick geht ins Leere. Sie trommelt mit den Fingern auf ihr Knie, dann sagt sie: » Ich glaube nicht, dass ich damit aufgehört habe. Es ist eher so, als ob ich… auf eine Gelegenheit warte.«
Gedankenverloren schaut sie auf die Uhr.
» Zeit zu gehen.«
Ich schütte den Rest des Tees in den Ausguss. Als ich die Tasse abstelle, merke ich, dass meine Hand zittert. Das ist schlecht. Sonst zittern meine Hände nur, wenn ich kurz davor bin zu weinen, und ich kann unmöglich in aller Öffentlichkeit weinen.
Wir verlassen das Tattoo-Studio und laufen zur Grube. All die Leute, die zuvor schon da waren, stehen jetzt an der Schlucht, und es riecht kräftig nach Alkohol. Die Frau vor mir schwankt nach links, verliert ihr Gleichgewicht und fängt an zu kichern, als sie auf den Mann neben ihr fällt. Tori fasst mich am Arm und führt mich weg.
Uriah, Will und Christina stehen bei den anderen Initianten. Christinas Augen sind verweint. Uriah hat eine kleine silberne Flasche in der Hand. Er bietet sie mir an. Ich schüttle den Kopf.
» Überraschung, Überraschung«, sagt Molly hinter mir. Sie stößt Peter mit dem Ellbogen an. » Einmal Stiff, immer Stiff.«
Es kann mir egal sein, was sie denkt. Ich werde sie einfach nicht beachten.
» Heute habe ich einen interessanten Artikel gelesen«, sagt sie und rückt näher an mich heran. » Es ging um deinen Vater und um den wahren Grund, weshalb du deine alte Fraktion verlassen hast.«
Es gibt im Moment wahrhaft Wichtigeres für mich, als ihr das Maul zu stopfen. Aber es ist das Einfachste.
Ich wirble zu ihr herum und meine Faust trifft ihr Kinn. Meine Fingerknöchel tun weh. Ich weiß gar nicht, wann ich beschlossen habe, sie zu schlagen. Ich weiß gar nicht, wann ich meine Hand zur Faust geballt habe.
Sie will sich auf mich stürzen, aber sie kommt nicht weit. Will packt sie am Kragen und hält sie zurück. Er blickt von ihr zu mir und sagt: » Hört auf damit. Alle beide.«
Halb wünschte ich, er hätte sie nicht zurückgehalten. Ein Kampf wäre eine willkommene Abwechslung gewesen, erst recht, weil jetzt auch noch Eric auf eine Plattform neben dem Geländer gestiegen ist. Ich blicke zu ihm hin und verschränke die Arme, um ruhig zu bleiben. Ich bin gespannt, was er sagen wird.
Soweit ich mich erinnern kann, hat bei den Altruan nie jemand Selbstmord begangen, aber die Haltung der Fraktion dazu ist eindeutig: Selbstmord ist ein Akt der Selbstsucht. Jemand, der wirklich
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