Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
ich die Flagge an mich gerissen habe, obwohl du sie erobert hast. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist.«
Ich weiß nicht, ob ich ihr verzeihen soll oder nicht– ob ich überhaupt jemandem verzeihen sollte, nach allem, was sie zu mir gesagt haben, seit gestern das Ranking bekannt gegeben wurde. Aber meine Mutter würde mir jetzt erklären, dass alle Menschen Fehler haben und ich nachsichtig mit ihnen sein soll. Und Four hat mir geraten, dass ich mich auf meine Freunde verlassen soll.
Allerdings frage ich mich, auf wen von ihnen ich mich verlassen soll, denn ich weiß nicht, wer meine wahren Freunde sind. Uriah und Marlene, die auch dann zu mir hielten, als ich Stärke zeigte, oder Christina und Will, die mich immer dann beschützt haben, wenn ich schwach zu sein schien?
Christina sieht mich aus ihren großen braunen Augen fragend an. Ich nicke. » Reden wir nicht mehr davon.«
Eigentlich ist meine Wut auf sie noch nicht verraucht, aber ich weiß, ich muss meinen Ärger hinunterschlucken.
Wir steigen so hoch hinauf wie noch nie. Will wird jedes Mal, wenn er nach unten schaut, ganz blass. Höhe macht mir nichts aus, also fasse ich Will am Arm, so als müsste er mich stützen– aber in Wirklichkeit stütze ich ihn. Er lächelt mich dankbar an.
Four dreht sich um und macht ein paar Schritte zurück– auf einem schmalen Steg ohne Geländer geht er rückwärts! Wie gut kennt er diesen Ort?
Als sein Blick auf Drew fällt, der am Ende des Trupps vor sich hin trottet, sagt er: » Nicht so lahm, Drew!«
Das ist ziemlich gemein, aber ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Doch als Four bemerkt, dass ich Will untergehakt habe, ist sein spöttisches Lächeln plötzlich wie weggewischt. Er macht ein Gesicht, bei dem es mich kalt überläuft. Ist er etwa… eifersüchtig?
Wir steigen weiter nach oben und zum ersten Mal seit Tagen sehe ich durch das Glas die Sonne. Four klettert über Metallleitern voran durch eine Öffnung in der Decke. Die Leitern ächzen unter meinen Füßen. Ich blicke in die Tiefe und sehe die Grube und die Schlucht unter mir.
Wir laufen über das Glas– an dieser Stelle ist es keine Decke mehr, sondern dient uns als Boden– bis hin zu einem zylindrischen Raum mit Glaswänden. Die umliegenden Gebäude wirken verlassen, sind halb verfallen und vom Viertel der Altruan ziemlich weit entfernt. Wahrscheinlich ist mir das Hauptquartier der Ferox deshalb früher nie aufgefallen.
In dem Raum wimmelt es von Leuten. Die Ferox stehen in Grüppchen beisammen und unterhalten sich. An einer Wand kämpfen zwei Ferox mit Stöcken gegeneinander, sie lachen, wenn einer nicht trifft und nur in die Luft schlägt. Über mir spannen sich zwei Seile, eins einen Fußbreit über dem anderen. Wahrscheinlich dienen sie den tollkühnen Stunts, für die die Ferox berühmt sind.
Four führt uns durch eine weitere Tür. Hinter ihr liegt ein riesiger, leicht muffiger Raum, dessen Wände mit Graffiti besprüht sind und durch den frei liegende Rohrleitungen verlaufen. Ein paar altmodische Leuchtstoffröhren mit Kunststoffumhüllungen erhellen den Raum– sie müssen uralt sein.
» Dies hier«, sagt Four und seine Augen leuchten in dem schummrigen Licht, » ist eine ganz andere Art von Simulation. Sie heißt auch die › Angstlandschaft ‹ . Für unsere Zwecke wurde sie deaktiviert. Wenn ihr das nächste Mal hier seid, wird sie anders aussehen.«
Hinter ihm ist in roten, kunstvollen Buchstaben das Wort » furchtlos« an die Betonwand gesprüht.
» Während der Simulationen haben wir eine Menge Daten über eure schlimmsten Ängste gesammelt. Die Angstlandschaft greift auf diese Daten zurück und stellt euch vor eine Reihe von virtuellen Hindernissen. Einige der Hindernisse, die ihr überwinden müsst, sind Ängste, die euch schon in den früheren Simulationen begegnet sind. Es können aber auch ganz neue Ängste darunter sein. Der Unterschied besteht darin, dass ihr euch in der Angstlandschaft bewusst seid, dass ihr euch in einer Simulation befindet. Ihr habt also eure fünf Sinne beisammen, wenn ihr euch durch die Simulation bewegt.«
Das bedeutet, dass es allen in der Angstlandschaft so ergehen wird, als wären sie Unbestimmte. Ist das für mich nun gut, weil ich dann nicht entlarvt werden kann, oder eher schlecht, weil ich meinen Vorteil den anderen gegenüber nicht nutzen kann?
Four erläutert weiter. » Die Zahl der Ängste, mit denen ihr in der Angstlandschaft konfrontiert werdet, schwankt, je nachdem, wie viele
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