Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
einen die anderen vernichten. Ich bin froh, dass ich das nicht miterleben muss.
Bevor ich mich für die Ferox entschieden habe, sind mir derartige Gedanken niemals in den Sinn gekommen. Ich war mir sicher, zumindest ein langes Leben vor mir zu haben. Jetzt habe ich keine Sicherheiten mehr, außer der, dass ich dorthin gehe, wohin ich gehe, weil ich es so will.
Ich laufe im Schatten der Häuser und hoffe, dass das Geräusch meiner Schritte keine Aufmerksamkeit erregt. In dieser Gegend brennt keine Straßenbeleuchtung, aber der Mond scheint hell genug, sodass ich in seinem Licht problemlos meinen Weg finde.
Ich laufe unter den Hochbahngleisen entlang. Jedes Mal, wenn ein Zug kommt, beben sie. Ich muss mich beeilen, wenn ich mein Ziel erreichen will, bevor jemand merkt, dass ich fort bin. Ich gehe um einen großen Riss in der Straße herum und springe über einen umgestürzten Laternenpfahl.
Bei meinem Aufbruch habe ich nicht darüber nachgedacht, wie weit ich gehen muss. Es dauert nicht lange und mir wird heiß von der Anstrengung des Laufens, vom ständigen Umsehen und weil ich andauernd irgendwelchen Hindernissen ausweichen muss. Ich erhöhe mein Tempo, halb gehe, halb renne ich.
Bald erreiche ich den Teil der Stadt, in dem ich mich auskenne. Hier sind die Straßen in besserem Zustand, sauber gefegt, mit weniger Schlaglöchern. In der Ferne sehe ich den Lichtschein des Hauptquartiers der Ken, ein Licht, das unsere Energiespargesetze verhöhnt. Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn ich dort bin. Eine Unterredung mit Jeanine fordern? Oder soll ich einfach stehen bleiben, bis jemand von mir Notiz nimmt?
Ich lasse die Fingerspitzen über ein Fenster gleiten. Ich bin gleich da. Jetzt, wo ich meinem Ziel so nahe bin, zittre ich am ganzen Körper; es fällt mir schwer zu gehen. Auch das Atmen wird schwer. Ich versuche ganz ruhig zu sein und lasse die Luft in meine Lungen ein- und ausströmen. Was werden sie mit mir machen, wenn ich da bin? Was haben sie mit mir vor, solange ich ihnen noch von Nutzen bin und sie mich noch nicht töten? Ich zweifle nicht daran, dass sie mich irgendwann umbringen werden. Ich zwinge mich vorwärts zu gehen, meine Beine zu bewegen, obwohl sie mein Gewicht gar nicht tragen wollen.
Und dann stehe ich vor dem Hauptquartier der Ken. Drinnen sitzen viele Blauhemden um Tische, tippen in Computer, sind über Bücher gebeugt oder reichen Papiere von einem zum anderen. Manche von ihnen sind nett, sie wissen nicht, was ihre Fraktion getan hat, aber wenn jetzt das ganze Gebäude vor meinen Augen über ihnen zusammenstürzte, wäre es mir egal.
Noch kann ich zurück. Die kalte Luft brennt auf meinen Wangen und meinen Händen, während ich überlege. Ich kann weggehen. Kann Zuflucht suchen im Quartier der Ferox. Kann hoffen und beten und wünschen, dass nicht noch jemand wegen meiner Selbstsucht stirbt.
Nein, ich kann nicht weggehen. Sonst werde ich unter der Last von Wills Tod, dem Tod meiner Eltern und jetzt auch noch Marlenes Tod zerquetscht. Sonst ist es mir unmöglich, weiterzuatmen.
Langsam gehe ich auf das Gebäude zu und mache die Tür auf.
Nur so kann ich weiteratmen.
Einen Moment lang, nachdem ich meinen Fuß auf die Holzdielen gesetzt habe und vor einem riesigen Porträt von Jeanine Matthews stehe, das an der gegenüberliegenden Wand hängt, bemerkt mich niemand, nicht einmal die zwei Wachen von den Ferox-Überläufern, die nahe der Tür herumlungern. Ich gehe zum Empfangstresen, wo ein Mann mittleren Alters mit einem kahlen Kopf einen Stapel Papiere sortiert. Ich lege meine Hände auf den Tresen.
» Entschuldigung«, sage ich.
» Einen Moment, bitte«, sagt er, ohne aufzusehen.
» Nein.«
Erst dieses Nein veranlasst ihn, den Kopf zu heben. Seine Brille ist ihm vorn auf die Nase gerutscht und sein finsterer Blick kündigt einen scharfen Tadel an. Aber was immer er auch sagen will, die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Er blickt mich mit aufgerissenem Mund an, seine Augen wandern von meinem Gesicht zu meinem schwarzen Sweatshirt.
Sogar in meiner Angst finde ich seinen Gesichtsausdruck komisch. Ich schmunzle ein wenig und verstecke meine zitternden Hände.
» Ich glaube, Jeanine Matthews wollte mich sprechen«, sage ich. » Deshalb möchte ich Sie darum bitten, ihr Bescheid zu sagen.«
Er gibt den Ferox-Soldaten an der Tür ein Zeichen, aber das ist gar nicht nötig. Die Wachen haben endlich kapiert. Vom anderen Ende des Raums kommen weitere Soldaten auf mich zu, sie umringen
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