Die Bestimmung
einem Ast nieder. Eine vierte und noch weitere folgten. Immer mehr kamen herbei, senkten ihre Krallen auf verwitterte Steine und Kreuze. Nicht eine sendete ihr typisches «Krah, Krah» in den dunstigen Morgen. Gemurmel entstand. Mützen wurden an die Brust gedrückt. Köpfe gesenkt, Blumen und Erde verstreut. Nilah schaute sich um. Unheimlich blickten all diese schwarzen Vögel auf das Grab. Wissend hockten sie auf den Gräbern und schauten nur. Nilah stupste Morrin vorsichtig an:
«Was machen die alle hier? Das ist ja unheimlich!»
Morrin sah sie kurz an, dann wieder auf das Grab, das jetzt zugeschaufelt wurde. Die meisten gingen bereits, einige schneller als wollten sie dieser Atmosphäre entgehen.
«Wenn die Krähen kommen, so sagt man, ist ein Unheil nicht mehr weit!»
Tanz und flüssiges Sonnenlicht
Wenn Iren jemanden in die Obhut des nächsten Lebens begleiten, tun sie dies niemals ohne ein Lied, oder zwei, oder drei.
Vielleicht pusten sie mit dem grölenden, lautstarken Gesang dem Verstorbenen den nötigen Auftrieb unter seine Flügel. So ungefähr stellte Nilah es sich jedenfalls vor, als das Haus von Edda aus allen Nähten platzte. Auf jedem freien Zentimeter stand jemand mit einem Glas in der Hand stand, der ihr liebevoll zunickte oder ihr leise und betroffen zuzwinkerte, während er oder sie aus vollem Halse sang. Wo all die Leute hergekommen waren, entzog sich ihrer Kenntnis. Ein paar jedenfalls hatte sie auf der Beerdigung gesehen.
Alle Möbel waren zur Seite geschoben worden, um Platz zu schaffen, und Nilah kam sich vor wie eine Kellnerin. Sie stolperte durch die Menge, als wäre sie in einem Strudel aus Leben gefangen. Und je mehr sie all diese Schwingungen in sich aufnahm, desto mehr rückte der Tod von Edda in eine seltsame Natürlichkeit. So mancher Hund strich um sie herum. Nilah vergaß fast völlig ihre Angst und streichelte den ein oder anderen sogar mutig über den Kopf, womit sie nur erreichte, dass sie ihr folgten.
«Ich bin aber kein Schaf, verdammt!» grummelte sie tadelnd, aber die treuen Blicke erwiderten etwas anderes.
Das ganze Haus war Musik, und Nilah konnte nicht anders, als sich irgendwann mitreißen zu lassen. Uilleann Pipes, die wie Dudelsäcke klangen, Geigen, Bodhrán-Trommeln, die mit einem Klöppel geschlagen wurden und Flöten waren so stampfend, dass kein Fuß still bleiben konnte. Sie wiegte die Hüften und tappte mit dem Spann auf die Dielenbretter, als sie einen kleinen Jungen in der Menge wahrnahm, der sie anstarrte. Er hatte eine Mütze auf, eine ziemlich krumme Nase und sah sie an, als würde er ihr einen Heiratsantrag machen wollen und hatte nur noch nicht die passenden Worte dafür gefunden. Dann verschwand er wieder hinter den Rücken und Beinen der anderen Gäste, die munter weiter sangen. Sie suchte ihn mit den Augen, aber sie fand ihn nicht mehr.
Sie bekam einen Stupser. Nilah drehte sich um. Vor ihr stand ein älterer Mann, der wie die Insel selbst aussah, so zerfurcht war das Gesicht von den rauen Elementen. Er hatte anscheinend mehrere Pullis übereinander an und darunter ein braunes Hemd. Das zimtfarbene Haar stand wild von seinem Kopf ab. Er grinste sie an, entblößte dabei eine furchterregende Zahnreihe und drückte mit kratziger Stimme sein ehrliches Bedauern aus. Nilah bedankte sich. Der Mann hob sein Glas, in dem eine sehr große Pfütze Whisky schwappte, und forderte sie auf, mit ihm anzustoßen. Nilah wollte sich wehren, aber es gab keinen Widerspruch. Er hielt ihr ein Glas hin und sie musste einen Schluck nehmen, wobei er mit donnernder Stimme Edda O´Connelly anrief, sie solle dem verdammten Teufel in den knöchrigen Arsch treten. Der Whisky brannte fürchterlich und Nilah musste japsend und hustend Luft holen. Der Mann schlug ihr bewundernd auf die Schulter, nahm selbst einen ordentlichen Hieb und wollte abermals anstoßen. Nilah schüttelte vehement den Kopf, aber etwas in dem Blick des Mannes verriet ihr, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt war, über solche Dinge nachzudenken. Der zweite Schluck war völlig anders. Es war, als verschlucke man eine kuschelige, rauchige Wärmflasche, die es sich sofort im Bauch gemütlich machte. Nilah nickte und rief: «Auf Edda! Soll sie doch dem verdammten Teufel seinen Namen aus dem Herzen reißen und die verdammten Buchstaben vertauschen!»
Der Mann sah sie verdutzt, danach beinahe ehrfürchtig an. Schließlich lachte er lauthals und forderte Nilah zum Tanz auf.
Die brausenden Töne
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