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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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irgendwo einem kleinen Mädchen gerade die Klitoris mit einer rostigen Rasierklinge abgeschnitten wird. Worin besteht der Unterschied zwischen einem Meter und zweitausend Kilometern? Er besteht in unserem Kopf, dachte sie. Und aus einem Stück Papier. Wenn man eine Spendensumme einträgt und sich einbildet, man hätte damit die Welt verändert. Gar nichts hatte man damit getan. Man hatte ein paar Euros zur Veränderung geschickt, nicht sich selbst!
    Es tat weh zu merken, dass man eigentlich nicht besser sehen konnte als jene, die man der Blindheit bezichtigte. Man musste es sich eingestehen! Man gehörte dazu. Punkt, aus! Dennoch konnte sie nur noch an eines denken: Unter deinem Blick entsteht die Welt!
    Was würde sie mit diesem Blick tun? Was?
    Der Verstand verweigert manchmal all den Dingen, die versuchen in ihn zu dringen, auf das Heftigste den Einlass. Wie ein Filter blendet er jene Gedanken aus, die nicht in sein Territorium gehören, weil sie dort Schaden anrichten könnten. Er wehrt sich mit Händen und Füßen gegen diese Eindringlinge, versucht, sie mit Routine zu ersticken oder mit messerscharfer Logik zu erdolchen. Er unternimmt alles, um sich zu schützen, selbst wenn er dabei falsch liegen könnte. Das ist so seine Art.
    Die Müdigkeit nahm diese Antworten mit sich. Sie verschlang alle Gedanken, deckte sie behutsam zu und wusch dabei allen Zorn fort. Nilah schlief einen gerechten Schlaf – so nannte der Verstand das.
    Als Nilah am nächsten Morgen vom Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, gekrümmt und nur unter ein paar zusammengeworfenen Decken, spürte sie sofort dieses innere Ziehen im Unterleib. Nun bekam sie auch noch ihre Tage. Besser konnte es ja gar nicht mehr kommen. Mit der Hand den Bauch reibend ging sie eine Etage tiefer in ihr Bad, duschte heiß und wühlte ihren Schrank nach OBs durch. Es war zum Kotzen. Warum war sie nicht als Mann auf die Welt gekommen? Müssten die das jeden Monat durchmachen, hätte die Weltgeschichte einen ganz anderen Verlauf genommen, davon war sie überzeugt. Das Schlimmste war, dass man sich augenblicklich zwei Kilo aufgedunsener fühlte und auch war!
    Unten war alles ruhig, als sie sich anzog. Ihr Vater hatte sicher früh das Haus verlassen. Sie wusste, dass schon vor ihrer unvorhergesehenen Reise die neue Dokumentation mit Musik hätte unterlegt werden sollen. Aber Eddas Tod war dazwischengekommen. Wahrscheinlich hatte ihr Vater nun alles ein wenig beschleunigt, um sich mit der Arbeit abzulenken.
    Nilah tat es leid, dass alles plötzlich irgendwie in der Schwebe hing. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als sie das erste Mal ihre Blutung bekommen hatte. Daphne hatte da im Haus gewohnt. Die kleine resolute Cutterin, mit der ihr Vater schon seit vielen Jahren zusammenarbeitete, hatte immer dann auf sie aufgepasst, wenn ihr Vater in der Welt faszinierende Bilder und Geschichten in seine Objektive saugte. Daphne wohnte bei ihnen für genau die Zeit, in der er fort war.
    Nilah war nicht dumm, sie wusste, dass diese Sache irgendwann passieren musste, aber als es dann geschah, stand sie doch ein wenig neben sich. Daphne war toll gewesen. Sie hatte Vanilleeis aus der Kühltruhe geholt und zu viel Wein getrunken. Als Nilah dann, gegen jede Zeitverschiebung, ihren Vater angerufen hatte, stand der gerade mitten in der kanadischen Pampa und unterhielt sich mit einem Sprecher des Haida-Stammes wegen einer Drehgenehmigung. Während Dahpne in ein Kissen schnarchte, schrie ihr Vater tausende Meilen entfernt seinen Stolz in den kanadischen Nachmittag. Er sprudelte davon, dass seine Tochter jetzt ein Teil des Mondes sei, und im Hintergrund hörte Nilah plötzlich seltsamen Gesang. Der Sprecher der Haida hatte spontan ein Lied angestimmt, das sie unterstützen sollte. Ihr Vater war außer Rand und Band und zitierte mehrere Naturreligionen, die genau diesen Augenblick als einen sehr machtvollen ansahen. Wie schade es wäre, dass er nicht da sei und und und ... Nilah war nach dem Telefonat nicht wirklich einen Schritt weiter gewesen, aber irgendwie hatte sie sich gefreut, dass ihr Vater sich gefreut hatte.
    Und nun betrog sie ihn! Ja, genauso fühlte es sich an.
    Nilah packte ihre Bücher und Hefte zusammen und verließ das Haus. Als sie in der U-Bahn saß, bekam sie plötzlich kaum noch Luft. Alles war so eng. Angestrengt sah sie aus dem Fenster, starrte ihr Spiegelbild darin an und die Sitzreihen dahinter, voll von Menschen, die sie nicht kannte und auch nicht kennen

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