Die Besucher
Wär’ ich heute im Bett geblieben, dann hätt’ ich jetzt meine Ruhe. Auf das Mädchen mit dem roten Haar und ihre Fischlein hätt’ ich einfach pfeifen sollen...«
Lia verstand einfach gar nichts mehr.
»Was ist los? Was wird hier eigentlich gespielt?«
»Bedrohung des Planeten Erde!!!«
Der steigende und fallende Ton der Sirene drang Thomas durch Mark und Bein.
Wie er es in vielen Übungen gelernt hatte, zerbrach er das Glas des Kastens an der Wand, der die Anweisung für einen Alarm der Stufe 1 enthielt. Das hatte seit etlichen Jahrhunderten niemand mehr getan: Vergilbte, in einer altertümlichen Drucktype gesetzte Blätter kamen unter dem Glas zum Vorschein:
»Es ist unverzüglich die UNO zu informieren...«, las Thomas auf dem ersten Blatt.
Diese Organisation gab es seit dreihundert Jahren nicht mehr! Sie hatte einst das Vetorecht, und gerade das hatte den letzten ernsten Konflikt zwischen den Menschen und den Delphinen hervorgerufen.
Die Sirene verstummte endlich. Auch der pulsende rote Kreis verschwand. Stattdessen hörte man Zahlen und eine metallisch dröhnende Stimme, die jede Silbe, jeden Buchstaben sorgfältig akzentuierte:
»ZD! Hier spricht ZD! Der Zentraldenker der Menschheit! Gefahr! Im Sternenraum G 37 haben die Computer ein unbekanntes Objekt festgestellt. Vermutlich einen Kometen, der sich der Erde nähert. Kontrolle des Raumes G 37 erforderlich. Sämtliche Routineprogramme sofort unterbrechen und die Umlaufbahnen Galileo sowie Luna 3 anpeilen. Sämtliche Angaben an ZD!«
»Mitschneiden, Lia!« brüllte jetzt Thomas, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein. »Alles! Auch die genaue Zeit!«
»Das ist überflüssig.« Den Kristallwürfel des Video-Quiz hatte Lia längst fortgeworfen. Völlig konzentriert widmete sie sich jetzt ihrer Aufgabe, die beiden Umlaufbahnen anzupeilen und durchzuschalten. »Die Zeit halten doch die Automaten fest.« Als Frau mochte sie nicht besonders attraktiv sein, aber als Techniker und Operator war sie einfach großartig.
Keine andere Frau hätte die Perücke abgenommen und sich damit den Schweiß vom kahlen Schädel gewischt, selbst wenn der Weltuntergang gedroht hätte. Aber genau das tat Lia gerade. Ihre Hände zitterten dabei.
»Wenn die Informationen vom ZD richtig sind, sausen wir ohnehin in die letzte Runde.«
An der Fernsehwand über ihren Köpfen erschien im Sternquadrat G 37 ein unbekanntes phosphoreszierendes Objekt, beziehungsweise dessen vom Computer simuliertes Ebenbild.
Zuerst erinnerte es an einen glühenden Stecknadelkopf, aber dann vergrößerten es die Geräte entsprechend, und man konnte feststellen, daß sich dieses Objekt auf einer langgestreckten Bahn langsam auf die Erde zu bewegte.
»Kontrollen?«
»Zwei. Luna 3 und Umlaufbahn Galileo. Rückgestrahlt über ZD. Voraussichtlicher Zusammenstoß mit der Erde in einhundertsiebzig Tagen.«
Das geschah am Freitag, dem 3. März des Jahres 2484 um 6.30 Uhr. Die sich nähernde Gefahr kannten in jenem Moment nur zwei Menschen: Thomas und Lia.
Für Überlegungen blieb keine Zeit mehr. Drei Minuten später mußte, aufgrund der seit Jahren vergessenen Weisungen, der Vorsitzende des Weltrats benachrichtigt werden. Schon um 11.30 Uhr sollte eine außerordentliche Tagung des Rats zusammentreten, um diese außergewöhnliche Lage zu erörtern und eine Lösung zu finden.
2. Ein Huhn mit Melone
»Was gibt es, Schätzchen?«
»Nenn’ mich nicht immer Schätzchen, vor allem nicht jetzt! Und schaff’ die Kinder fort!« fuhr der Vorsitzende des Rats wütend seine Frau an, während er den Bildschirm beobachtete. Mitten in der siebten Runde des Ratespiels »Wer die Antwort weiß, meldet sich« war plötzlich der pulsierende rote Alarmkreis erschienen, der nichts Gutes bedeutete. Alarmstufe Eins! Ärgerlich versuchte der Vorsitzende das Phantom eines seltsamen Huhnes mit einer Melone auf dem Kopf mit seinem Kristallwürfel abzuschießen, denn es störte ihn in seiner Konzentration.
Aber es flog ihm immer wieder davon. Die Kinder jagten dem Vogelphantom nach. Eben war es hoch oben auf dem Kopf einer Siegesstatue gelandet. Dort flatterte es mit den Flügeln, legte ein Ei, hob seine Melone zum Gruß und flog gackernd weiter. Der Vorsitzende gab das Spiel auf. Beim Anblick des pulsenden Warnkreises schien er um Jahrzehnte gealtert. »Eine Gefährung der Erde?« fragte er erregt, als er endlich ungestört war und sein ALGO-Gerät auf Empfang geschaltet hatte. »Seid ihr da
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