Die Besucher
daß der Zentraldenker es zuließ, daß jemand mit einem derart verrückten Fachgebiet beim Zierteich in der Abfahrtshalle des Kinetodroms Fische und Schnecken fütterte. Den Computer so zu programmieren, daß er gerade diese Frage beantworten würde — das war nicht leicht, wußte Thomas. Aber heute hatte Lia Dienst und mit ihr zusammen könnte es vielleicht gelingen.
Leise surrend erreichte die Kabine die Südhalle des Zentrums. Der zweite Kontrollkreis war schon seit zwei Wochen gestört, aber niemand hatte es mit seiner Instandsetzung eilig. Warum auch? Es gab doch noch eine dritte Kontrollvorrichtung, die niemanden in das unterirdische Labyrinth einließ, dessen Handflächendruck nicht im Gedächtnis des Kontrollcomputers gespeichert war. Thomas fand Lia in der Duschkabine. Sie war überrascht, ihn zu sehen.
»Was hast du hier zu suchen? Nach deinem Konditiogramm sollst du heute verschnaufen! Hier ist ohnehin nichts zu tun, und das schaff ich schon alleine.«
Sie kam eilig unter der Brause hervor, um das Fernsehquiz »Wer die Antwort weiß, meldet sich« abzuschalten. Sie hatte es an allen Bildschirmwänden des Zentrums mitverfolgt.» Ihre Aufgabe ist es, den Titel des Bildes und den Namen des Malers zu erraten.« Im Widerspruch zu allen Regeln der Video-Journalistik zeigten die Bildschirmwände eine Wüste. Orangegelbe Sanddünen, mit denen der Wind spielte. Dreiundzwanzigstes Jahrhundert, schätzte Thomas das Alter des Bildes. Jemand von der ersten Generation dieser Piktokinetiker.
Das Bild an der Bildschirmwand lebte nämlich. Es veränderte sich. Weißer, mit einem zarten Flaum versehener Flugsamen sank vom blauen Himmel zur Wüste herab. Zarte Samenfäden drangen wie die Fangarme einer Krake in den Sand, wo sie Wurzeln faßten. Vom Regen benetzt, schossen Triebe in die Höhe, rankten sich hoch und verwandelten sich in einen seltsamen, einsam dastehenden, weißen Baum.
»Aber das ist doch der >Baum der Träume<«, erinnerte sich Lia plötzlich. »Ein Bild, das dieser Anderle damals von seinem ersten Mondflug mitgebracht hat.«
Dabei errötete sie verschämt, weil der Quizmaster lobend sagte:
»Erraten! Es ist in der Tat ein Anderle, nämlich sein Werk, >Baum der Träume<. Aber damit ist Ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Wenn Sie in die zweite Runde unseres Videospiels >Wer die Antwort weiß, meldet sich<« aufsteigen wollen, das wir jeden Morgen linear im Dritten Städtischen Programm ausstrahlen, dann haben Sie jetzt die Möglichkeit, mit Hilfe Ihres Kristalls eine Frucht, die nicht in dieses Bild gehört, auszulöschen.«
»Darf ich?« fragte Thomas eigentlich vergeblich, denn er wußte nur zu gut, daß Lia ein Quiz, in dem sie Chancen hatte, nie abschalten würde.
Um sie herum pulsten in Glasröhren bunte Flüssigkeiten, das »Blut« des Zentraldenkers, das eine unendliche Flut von Informationen enthielt. An den Bildschirmen begannen die Äste des Baumes in den Raum zu wachsen, Blüten zu tragen, die gleich darauf ihre Kelchblätter abwarfen, um zu Früchten bizarrer Formen heranzureifen.
»Vielleicht ein Zitropom?«
»Ein Zitropom hat Anderle in seinem Original«, erinnerte sich Thomas. Als Junge hatte er mit seinen Mitschülern das Museum Piktokinetischer Kunst besucht. Manche jener gruseligen Objekte, die er damals gesehen hatte, verfolgten ihn noch heute im Traum. Zum Beispiel eine aus einem Bild zu ihm herausragende Hand oder diese dreiköpfigen Stiere. »Vielleicht eine Amarone«, soufflierte Thomas. »Das ist doch sonnenklar! Die Amaronen wurden doch erst nach Anderles Tod in Mitschurinsk gezüchtet, und Anderle konnte sie daher gar nicht kennen!«
Mit dem Kristall schoß er die Amaronen vom Baum. Sie verschwanden von der Bildfläche, die Äste des Baums von den Bildschirmwänden.
»Sehr richtig! Amaronen gehören nicht auf diesen Baum!« lobte der Quizmaster. »Vier Antworten, vier Pluspunkte. Jetzt schnell weiter in die fünfte Runde, denn...»
Der »Baum der Träume« verschwand und mit ihm der Quizmaster.
Sekundenlang hörte man nur das Rauschen der Flüssigkeiten in den Glasröhren. Dann begann eine Sirene zu heulen. Ein grelles Rot überflutete die Bildschirmwände. Es stabilisierte sich zu einem pulsenden roten Kreis, der an das rote Warnzeichen im Konditiogramm unseres Freundes Thomas erinnerte. Schwitzend schaltete er alle Displays ein. Auch das Zentraldisplay. »So, jetzt sitz’ ich in der Tinte«, dachte er im stillen, »und zwar bis über die Ohren!
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