Die Betrogenen
der letzten Autobahnausfahrt hatte sie wieder geschluchzt.
Durch das geöffnete Fenster drang ein Schwall kühler Morgenluft. Das Licht war schnell stärker geworden; wenn Karl den Kopf hob, konnte er schon einzelne Buchtitel unterscheiden. Vorsichtig legte er eine Hand auf Noras Hüfte. Er werde sie ja nie kennenlernen, hatte Bittnerprophezeit. Und Prophezeiungen entging man ja angeblich nicht. Nun, gelegentlich irrte sogar der Meister.
Die Erkenntnis kam so selbstverständlich wie gebieterisch. Über ihren Vater konnte er jetzt nicht mehr schreiben, das war leider unmöglich geworden. Der Biograph mit der Tochter … Nein, mit Bittners Biographie war es, noch bevor er überhaupt angefangen hatte, auch schon wieder vorbei. Über die Befriedigung, die er bei diesem Entschluß empfand, würde er sich ein andermal Rechenschaft ablegen.
Nora seufzte im Schlaf und drehte sich um. Das S war jetzt spiegelverkehrt und bot ihm die schmale Brust.
Hinterm Vorhang
Was Warten war, verstanden die wenigsten. Wenn andere Leute zu warten vorgaben, vertrieben sie sich die Zeit. Wenn Karl wartete, tat er nichts anderes. Wem nicht jede Minute, um die sich jemand verspätete, wie der Wassertropfen auf dem rasierten Schädel zerspellte, der wußte nicht, was Warten war.
À propos, hörte er es da nicht in der Küche tropfen? Er mußte an den schottischen Telegraphenbeamten denken, von dem ihm Bittner einmal erzählt hatte. Der nahm seinenBeruf etwas zu ernst, so daß er auch nach der Arbeit in seiner Privatwohnung Botschaften empfing. Ein Spirit morste sie ihm zu und bediente sich dabei eines tropfenden Wasserhahns.
Bei Karl tropfte es nur stumpf vor sich hin. Es kamen keine Botschaften, während er wartete. Wobei von Verspätung in seinem Fall noch nicht einmal die Rede sein konnte, sie hatten ja nichts ausgemacht. Daß sie sich nach ihrer kurzen Verabschiedung – ihren frühen Arbeitstermin hatte sie am Abend erwähnt – am gleichen Tag melden würde, wäre wohl zu viel verlangt.
Karl wartete; auch lesen oder Musik hören war ihm vergällt. Der Wasserhahn tropfte immer noch; er müßte einen Klempner oder polnischen Handwerker organisieren. Der von Nora ging nicht ans Telephon, als er am nächsten Tag in der Galerie anrief und es durchklingeln ließ. Sollte er jetzt vielleicht Rosen schicken, in Verprellung des Pakistanis, oder war das schon zu aufdringlich?
Am dritten Tag mußte er sich ablenken und etwas unternehmen, bevor er es am Abend noch einmal versuchen wollte. Es fiel ihm ein, in die Sauna zu gehen. Mit dem Artikel über die Berliner Galerien kam er nicht voran, hatte ja auch kein rechtes Material dafür, und das Brüten in der Hitze tat ihm immer gut.
Die Saunaanlage in der Schiefen Straße – kein unpassender Name, wie er im nachhinein fand – war einer im schonleicht abblätternden Jugendstil gehaltenen Badeanstalt angegliedert, deren Schwimmhalle Karl zielstrebig umging, um sich direkt in die Dampfkammern zu begeben.
In der finnischen Sauna saß er bei achtzig Grad auf seinem Frotteebadetuch und spielte das alte Spiel. Er hielt den Kopf nach vorne gebeugt und versuchte, seine Schweißtropfen so zu dirigieren, daß sie zwischen die Querspalten des Holzlattenbodens fielen. Sowie sich der Tropfen auf der Stirn gebildet hatte und erst langsam herabzukullern begann, um dann schnell Fahrt aufzunehmen, mußte man den Kopf ein paar Millimeter nach links oder rechts wenden; es war nicht leicht zu berechnen, die meisten Tropfen zerplatzten auf dem Holz des Lattenrostes, nur wenige streiften ihn knapp und fielen zu Karls Befriedigung in den schwarzen Zwischenraum. Dieser platzte wieder, da hatte er den Kopf einen Tick zu weit gedreht. Wenn der nächste nach unten durchkam, würde er noch am selben Abend Nora sehen.
Die wenigen Liegestühle für die anschließende Ruhezeit waren alle belegt. Auf einem schlief ein älterer korpulenter Mann, der sich ein Handtuch über den Kopf gezogen hatte, als böte sein Gesicht mehr Anlaß zur Scham als sein quellender Bauch. Karl dachte an den Mann mit der Tumorknolle, der sich im Speisewagen hinter der Zeitung verkrochen hatte.
Die andern Saunagäste saßen dicht nebeneinander aufden zwei Etagen einer langen Kiefernholzbank. Karl fragte sich, wie Nora solche Verhältnisse empfunden hätte; in Amerika verwahrten die Frauen ihren Schmuck in einem Plastiksäckchen, behielten den Badeanzug aber an, wenn sie nicht gleich ihr separates Kabinett hatten. Hier saß Karl zwischen zwei
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