Die Bettelprophetin
Überraschung erhielt sie als Einzige keine Beurteilung – in Anbetracht der Tatsache, dass sie, wie Löblich erklärte, in heilloser Unbildung hier in die Anstalt gekommen sei, sowohl was theoretische Kenntnisse als auch praktische Fertigkeiten angehe, und man erst ein weiteres Halbjahr bezüglich ihrer Entwicklung abwarten wolle.
Der Oberinspektor nickte ihr huldvoll zu: «Nutze dies als Gelegenheit, mein Kind, künftig das Beste aus dir herauszuholen. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben.»
Enttäuscht ging sie an ihren Platz zurück. Hatten sie nicht in kürzester Zeit Buchstabieren und Lesen gelernt? Kannte sie nicht fast alle Gebete, Psalmen und Lieder auswendig? Der Marder wusste das doch ganz genau! Wie einen simpelhaften Dorfdeppen hatte er sie vor dem dicken Fritz dastehen lassen.
Sie hörte nicht zu, als nach ihr noch die Zwillingsmädchen und dann die älteren Buben nach vorne gerufen wurden. Erst bei Urle hob sie den Blick. Wie dünn er geworden war und wie bleich. Selbst sein flammendes rotes Haar hatte an Farbe verloren, die schönen grünen Augen blickten stumpf. Seit seinem Arrest war es noch schlimmer mit ihm geworden: Sogar Theres ging er aus dem Weg, er sprach kaum ein Wort, seine sonst so flinken Bewegungen wirkten schwerfällig, als trage er eine unsichtbare Last mit sich herum. Seine lustigen Späße und frechen Bemerkungen, mit denen er sich selbst bei Jodok Respekt verschaffen konnte, hatten aufgehört, und Theres fragte sich, ob er vielleicht ernsthaft krank war. Sie hatte davon gehört, dass man auch an der Seele krank werden konnte.
«Bei dir, lieber Ulrich», hörte sie den Marder sagen, «haben wir den besten Beweis dafür, welch üble Verbindung Herkunft und Geburt eingehen können, wenn beide von Verwahrlosung und kranker Konstitution geprägt sind. Es gebricht dir an allem, was einen jungen Menschen zum nützlichen Mitglied unserer Ordnung macht. Dein grobes, unbotmäßiges Benehmen, verbunden mit frecher Großsprecherei, lässt für die Zukunft Finsteres ahnen. Hinzu kommt, dass du sowohl in meinem Unterricht als auch bei Industrielehrer Schlipf auffallend wenig Aufmerksamkeit und Gewerbefleiß zeigst. Deine Leistungen in den Lehrfächern Rechnen, Schreiben und Lesen sind durchweg mangelhaft, dito in Katechismus und Bibelkunde, allenfalls ausreichend erscheinen sie in den industriellen Tätigkeiten. Ich wage zu sagen, verehrter Herr Oberinspektor», wandte er sich nun an seinen Vorgesetzten, «dass der Junge fehl am Platze ist an einer Elementarschule wie der unsrigen. Für solche wie ihn, für solche, die unser Herrgott nur mit den allergeringsten Fähigkeiten in Geist und Körper ausgestattet hat, gibt es gewiss zweckmäßigere Einrichtungen, wie etwa die Anstalt in Zwiefalten.»
Theres war entsetzt. Aber weder sie noch ein anderer Schüler wagten es, dieser Ansammlung von Lügen zu widersprechen.
«Bedenklich, wirklich bedenklich.» Der dicke Fritz wiegte den Kopf hin und her. «Hast du hierzu etwas zu sagen, Ulrich?»
Urle hob den Blick, sah dem Oberinspektor fest in die Augen und schwieg.
«Sehen Sie – verstockt ist er obendrein!» Empört wedelte Löblich mit Urles Zeugnisblatt in der Luft herum. «Wie spricht doch Jesus in der Bergpredigt?
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
– Geh zurück in deine Bank!»
Nach der Zensurenverlesung sangen sie noch ein Dankeslied, dann wurde der Unterricht vorzeitig beendet, da für das pädagogische Personal eine Konferenz anstand. Draußen im Gang fasste Theres Urle beim Arm und zog ihn zur Seite.
«Das war gemein vom Marder!»
Urle zuckte nur die Achseln. Seine Augen waren gerötet, als habe er geweint.
«Es ist mir gleich, was die Lehrer von mir denken.»
Schwatzend schlenderten einige Klassenkameraden an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten – bis Jodok mit Bartlome im Schlepptau erschien.
«Dumm und dumm gesellt sich gern!», rief er mit lauter Stimme.
Einige begannen zu kichern und blieben stehen.
«Unser Urle hat ein Idiotenzeugnis gekriegt», fuhr Jodok fort, «und die Theres kriegt erst gar keins, weil sie so strohdumm ist – ihr zwei passt zusammen wie das Deckelchen aufs Töpfchen.»
«Deine Zensuren sind auch nicht viel besser», entgegnete Urle ruhig.
«Wie das Deckelchen aufs Töpfchen», wiederholte Jodok und blickte sich um. «Oder wie das Schlüsselchen
Weitere Kostenlose Bücher