Die Bettelprophetin
lieber Herr Seibold. Diese ganzen Prozessionen neuerdings hier im Oberland, wie am Blutfreitag zu Weingarten, die Wallfahrt zur Guten Beth nach Reute, auf den Bussen hinauf, sogar bis ins schweizerische Einsiedeln, schaden in diesem Übermaß doch nur dem Arbeitsfleiß und der Sittlichkeit. Nein, da bin ich ausnahmsweise einmal ganz eins mit unserer Staatskirche. – Und nun, Theres, geh in die Küche und hol uns die Apfelküchlein zur Nachspeis.»
Theres hatte dem Fremden staunend zugehört. Seine Worte hatten etwas Unmittelbares, und ihm fehlte so gänzlich die herablassende Art, die sie bei anderen Geistlichen oft wahrgenommen hatte. Jetzt legte er die Hand auf ihren Unterarm, leicht und vorsichtig wie ein Vogel, der sich niedersetzt, und blickte ihr geradewegs in die Augen. Sie hatten die gleiche Farbe wie die von Elias! Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken.
«Wir haben noch nicht die Antwort von Theres gehört. Also, wie findest du am besten ins Zwiegespräch mit Gott?»
Erschrocken sah sie ihn an. Sollte sie ihm enthüllen, dass sie gar nicht mehr betete? Dass, wenn sie die Lippen bewegte, hier vor dem Pfarrer oder drüben in der Kirche, ihr Inneres schwieg?
«Ich sprech die Worte, die man mich gelehrt hat», antwortete sie leise.
«Sehen Sie!», rief Konzet voller Triumph, während sein Gast den Blick nicht von Theres löste. Sie las darin Mitgefühl und auch Unglauben, und plötzlich war sie sich sicher, dass er ihre Notlüge durchschaute.
«Der Herr segne und behüte dich, Theres», murmelte er und wirkte dabei fast ein wenig traurig. Hastig und ohne ein weiteres Wort verließ Theres die Stube.
Als sie am nächsten Morgen hinunter in die Küche kam, war Patriz Seibold bereits abgereist. Sie spürte eine leise Enttäuschung.Hatte sie sich doch erhofft, noch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ihr Blick fiel auf Konzet, wie er da mit eingezogenen Schultern am Küchentisch hockte und auf seine Morgensuppe wartete. Ein vages Gefühl von Mitleid überkam sie. Nein, dieser Pfarrer erreichte die Menschen seiner Gemeinde nicht, auch wenn er sich vielleicht nichts sehnlicher wünschte. Wie gern hingegen hätte sie einmal einen Gottesdienst bei Patriz Seibold besucht.
«Ist was?», raunzte Konzet unwillig.
Theres schüttelte den Kopf.
«Dann hör auf, Löcher in die Luft zu starren. Ich hab Hunger und wenig Zeit.»
«Ja, natürlich», murmelte sie und beeilte sich, seinen Teller zu füllen. Sie war versucht, ihn zu fragen, wo genau dieser Pfarrer Seibold seine Gemeinde hatte, doch der Anblick von Konzets verdrießlicher Miene hielt sie davon ab.
«Sag der Theres, sie soll noch eine Karaffe Wein abfüllen», hörte sie durch die geöffnete Stubentür den Einödbauern rufen. «Dann kannst jetzt Feierabend machen. Hast genug geschafft, die letzten Tage.»
Mit einem Stapel leerer Teller kehrte die dicke Lene in die Küche zurück. Sie sah wirklich müde aus.
«Noch einen Krug Seewein für die Herren», sagte sie laut, um dann leiser hinzuzufügen: «Gib acht, Theres, die Kerle sind schon reichlich besoffen.»
Theres nickte. Es war ihr zweiter Abend hier auf dem Einödhof und bereits recht spät. Wohlgschaffts Frau lag seit über einer Woche mit schwerem, ansteckendem Schleimfieber im Biberacher Spital, und zu allem Unglück hatte auch noch die Magd Cathrin den Hof vorzeitig verlassen, sodass die Hauswirtschaft in heilloser Wirrnis unterzugehen drohte. Da hatte sichAugust Wohlgschafft hilfesuchend an seinen Freund Konzet gewandt.
Längst bereute Theres, dass sie zugestimmt hatte, für einige Tage auf dem Einödhof auszuhelfen. Zu verlockend war ihr anfangs das Angebot erschienen, dem düsteren Pfarrhof zu entfliehen und ihre Arbeit in der fröhlichen Gesellschaft vom letzten Mal zu verrichten. Dass sie allerdings dort würde übernachten müssen, unter einem Dach mit dem grässlichen Einödbauern, hatte sie nicht bedacht. «Kann ich nicht wenigstens abends heimkommen?», hatte sie ihren Dienstherrn vorsichtig gefragt. «Unsinn! Der weite Heimweg ist viel zu gefährlich in den Abendstunden. Bleib nur dort, auf dem Hof ist genug Platz zum Übernachten. Und der August Wohlgschafft wird sich sicher erkenntlich zeigen, wenn du dich fleißig anstellst. Er ist ein guter Mann, der Wohlgschafft, nur ein bisschen laut zuweilen.»
Bis zu diesem Abend hatte sie den Einödbauern zum Glück gar nicht zu Gesicht bekommen. Allerdings war die Arbeit diesmal alles andre als kurzweilig. Statt in geselliger Runde in
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