Die Beute
mein Gott«, sagte sie dann laut, stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte beide. »Alles in Ordnung? Ihr seid bestimmt halb erfroren! Ihr seid ja ganz nass! Gott sei Dank, dass ihr da seid!« Sie nahm Corrine am anderen Arm, plapperte weiter und führte sie an den Gästen vorbei zur anderen Seite der Bar. »Dein Auto ist erstmal versorgt. Es steht in der Garage. Hannah hat den Schlüssel zum B & B besorgt und sich von dem Typen im Laden den Weg beschreiben lassen. Sie hat außerdem Milch gekauft. Schau mal, Hannah, sie sind da!«
Hannah erhob sich von einem Stuhl, der mit anderen eng um ein niedriges Tischchen stand, und half Corrine, sich zu setzen. Jodie war froh, Corrine endlich übergeben zu können und dass Hannahs Aufmerksamkeit auf Corrines verstauchten Knöchel konzentriert war. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, bevor sie sich ins Vergnügen stürzen konnte. Sie zog ihren feuchten Mantel aus, hing ihn über eine Stuhllehne und atmete tief durch.
»Lou, reich mir mal meine Jacke rüber«, sagte Hannah. Sie legte Corrines verletzten Fuß auf das niedrige Tischchen. Mit einer Hand nahm sie Louise die Jacke aus der Hand, knüllte sie zu einem Kissen zusammen und schob sie unter Corrines Bein. »Kannst du die Zehen bewegen?«, fragte sie.
Jodie sah zu, wie Hannah Corrines Hosenbein aufrollte, den Reißverschluss des Schuhs herunterzog und das steife Leder wegklappte. Sie tat das alles ohne großes Aufheben, als hätte sie so was schon zig Mal gemacht, und vermutlich traf das auch zu. Sie war gelernte Krankenschwester und hatte seit ihrer Ausbildung nur dreimal pausiert, für jedes Kind einmal. »Er schwillt an, du hast einen ordentlichen Bluterguss«, sagte Hannah. Sie ließ den Knöchel nicht aus den Augen und sagte laut zu den anderen: »Louise, in meiner Handtasche ist ein Entzündungshemmer. Seitentasche.«
Lou sah Jodie kurz an und signalisierte mit ihrem Blick: Sag jetzt bloß nichts, sonst lache ich noch los.
Hannah, Gott segne sie, meinte es nur gut, und sie alle hatten hin und wieder von ihrer liebevollen Fürsorge profitiert, doch das hier wuchs sich zu intensiver Pflege aus. Jodie überlegte, dass wohl jede von ihnen das gewollt hätte, wenn ihr Leben in Hannahs Händen gelegen hätte, doch wenn es lediglich um eine Schnittwunde im Finger oder starke Kopfschmerzen ging, tat sie zu viel des Guten. Und nach Corrines Schilderung von der idiotischen Nachtwanderung und Hannahs Anstrengung, den verstauchten Fuß zu versorgen, als handle es sich um eine große Verletzung, war das nur noch mehr Salz auf ihre Wunde.
Glücklicherweise hatte Lou Sinn für Humor. Sie griff nach Hannahs großer brauner Ledertasche, öffnete eine Seitentasche von der Größe eines Briefumschlags und grinste Jodie an. Sie zog Scheren, Klebeband, Gummihandschuhe, eine Augenbadewanne, Mullbinden und eine Spritze heraus und reihte sie nebeneinander auf. »Hannah, da ist ja ein halbes Krankenhaus drinnen.«
»Nur das Allernötigste.«
Lou zog ein Einwegskalpell heraus. »Für OP s am offenen Herzen. Hey, hast du vielleicht auch einen Defibrillator dabei? Vielleicht kriegt Corrine ja einen Herzstillstand?«
»Louise, mir tut alles weh«, sagte Corrine.
»Könnten wir uns jetzt vielleicht wieder auf den Entzündungshemmer konzentrieren?«, sagte Hannah.
Lou sah Jodie an. Sie merkte, dass sie zu weit gegangen war, und Jodie spürte, wie sich die Anspannung um ihre Mundwinkel löste. Lou fand ein Päckchen, klatschte es wie in einer Krankenhausserie auf Hannahs offene Handfläche und sagte: »Entzündungshemmer, Doktor.«
Daraufhin prustete Hannah los. Genau wie Louise und schließlich auch Jodie.
»Ich brauche Wasser«, sagte Corrine.
Hannah fand eine Flasche Wasser in ihrer Umhängetasche, reichte sie an Corrine weiter und sah dann Jodie an, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Ich glaube, Jodie könnte was Härteres vertragen. Lou, holst du jetzt mal die Drinks?«
»Gute Idee.« Lou nahm ihre Handtasche und verschwand in der Menge.
Jodie wusste sofort, was Hannah vorhatte, als sie auf sie zukam – sie war die nächste Patientin. Doch sie brauchte keine Streicheleinheiten. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Zeit und genügend Platz. Und einen starken Drink. Sie lächelte und versuchte auszusehen, wie sie sich keineswegs fühlte – ruhig, entspannt und bereit für muntere Scherze unter Freundinnen. Es gelang ihr aber nicht, denn Hannah ging um den niedrigen Tisch herum und legte ihren Handrücken
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