Die Beute
an Jodies Wange.
»Du frierst ja.« Dann legte sie ihre Hand auf Jodies Schulter und rieb sie. »Du zitterst ja, dir ist total kalt. Setz dich.«
»Nein, es geht mir gut.« Sie stand noch immer hinter dem Stuhl und wollte sich nicht setzen. Der Dartwettbewerb ging in die nächste Runde, und als sie die lauten Jubelrufe der Menge hörte, wäre sie am liebsten weggerannt.
»Komm, versuch es wenigstens, wärm dich auf.« Hannah nahm sie am Arm und zog sie mit.
Doch damit stieß sie nur auf Jodies Widerstand. Sie riss sich los, bereute es aber sogleich und setzte sich, wie ihr geheißen.
Mit derselben Zielstrebigkeit wie bei Corrine begann Hannah Jodies Oberarme zu massieren. Ihre Nähe war beengend, der Druck wie eine Armbinde. Sie stieß Hannahs Hand weg. »Nein, es geht schon.«
Hannah ging zum niedrigen Tischchen und setzte sich Knie an Knie Jodie gegenüber, nahm ihre Hände und rieb sie.
»Nein, Hannah, es geht mir gut.« Sie versuchte, ihre Hände wegzuziehen.
Doch Hannah hielt sie mit ihrem Krankenschwestergriff fest.
»Hannah!« Herrgott, wenn Hannah wüsste, was ihr das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen, würde sie ihre Hände nicht so festhalten. Doch davon wusste sie nichts, ermahnte Jodie sich. Sei nachsichtiger mit ihr. Atme durch. »Hannah«, sagte sie ein wenig freundlicher. »Es ist okay, mir geht es gut.«
Hannah ließ sie mit einem tiefen Seufzer los, strich sich das Haar hinter die Ohren zurück und nahm dann ihren Wollschal vom Hals. »Zieh den an. Vielleicht ist dir nicht kalt, aber glaube mir, du bist völlig unterkühlt.« Sie hielt ihr den Schal hin.
Jodies Dickköpfigkeit loderte auf. Hannah war eine Naturgewalt, eine dieser Freundinnen, die jede berufstätige Mutter als Beweis dafür betrachtete, dass eine Frau sich hundertfach zerteilen und trotzdem überleben kann. Sie tat alles aus eiserner Überzeugung, stand Familie, Freunden und Patienten voll zur Verfügung. Doch genau deswegen hätte Jodie sie ab und an am liebsten geschlagen. Hannah gab nie so leicht auf, aber Jodie hasste es, herumgeschubst zu werden.
Du hast nur zwei Möglichkeiten, Jodie. Entweder erzählst du ihr die Wahrheit, oder du nimmst den Schal. Aber wollte sie wirklich hier im Pub sitzen und Hannah sagen: »Na ja, weißt du, das ist nicht die Kälte, es ist etwas völlig anderes«? Hatte sie ihr erst einmal den Flashback erklärt, musste sie ihr auch alles andere erklären und … Sie schloss die Augen und spürte, wie die kalten, hässlichen Erinnerungen ihren Rücken hinaufkrochen. Herrgott, Jodie, das war doch nur ein verdammter Schal, Hannah versucht nur zu helfen! Sie öffnete die Augen, nahm den Schal und lächelte. »Danke, das ist bestimmt genau das Richtige.«
»Also, Leute«, sagte Lou laut. Sie war mit den Drinks zurück und sah Hannah und Jodie an. »Jetzt, wo alles geklärt ist, erzählt doch mal, was zum Teufel da draußen passiert ist.«
Jodie zuckte die Achseln und sah Corrine an.
»Nun«, brummte die theatralisch. »Wir standen in der totalen Dunkelheit, da hat Jodie beschlossen, mich samt Gepäck die Straße runterzuscheuchen. Ich bin gefallen, ist doch klar, wenn man auf zehn Zentimeter hohen Absätzen in der Dunkelheit herumstolpert. Herrgott, das war eine Qual …«
Jodie nahm einen herzhaften Schluck Bourbon Cola und ließ sich von Corrines Version der Geschichte ablenken. Der Pub war inzwischen fast brechend voll, es waren vorwiegend Männer, die meisten wandten dem Raum ihren Rücken zu und sahen dem Dartspiel zu. Sie prüfte Gesichter, mied jeglichen Augenkontakt, sah wieder auf die Uhr. Herrgott, wie lange noch? Sie versuchte sich zu entspannen. Es gelang ihr auch. Doch sie war sich ziemlich sicher, dass der Bourbon nicht ausreichte, um ihre Anspannung völlig zu lösen.
»Mein Gott, Corrine«, unterbrach Lou fröhlich Corrines Erzählung. »Das klingt ja schrecklich. Und du hast dir bestimmt nur den Knöchel verstaucht? Klingt ja, als hättest du ein Bein verloren.«
Trotz ihrer Bedrücktheit musste Jodie lächeln. Sie sah Lou an, die Hannah breit anlächelte, und dann zu Corrine, die nachdenklich schwieg. Corrine sah ihre Freundinnen nach der Reihe an und begriff, dass es sich nicht lohnte, die Beleidigte zu spielen. Sie lachte los. Alle fielen ein. »Okay, okay. Glaub bloß nicht, dass du diesen Defibrillator bald an mir ausprobieren kannst, Louise.«
»Spielverderberin.«
»Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung mal nett zu mir wärest und mir noch einen Drink holen
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