Die Beute
das Gefühl permanenter Bedrohung, die sie nun schon seit fast vierundzwanzig Stunden auf Trab hielten, zeigten langsam Wirkung. Sie war völlig erschöpft. Ihr Kopf dröhnte, und bleierne Müdigkeit überkam sie. Sie träumte davon, zwischen die frischen weißen Laken ihres Bettes zu schlüpfen und in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu gleiten – und stieß einen langen, müden Seufzer aus, denn sie wusste, dass das nicht eintreten würde.
Sie musste sich mit Louise, Hannah und Corrine aussprechen. Sich für ihr Verhalten und die Vorwürfe entschuldigen, die sie ihnen an den Kopf geworfen hatte, bevor sie abgehauen war. Sie sehnte sich keinesfalls danach, das alles noch mal aufzuwärmen – es war schon hart genug, sich selbst eingestehen zu müssen, dass sie ein Problem hatte, dass drei fiese, sadistische Männer sie noch immer als Geisel hielten, obwohl sie vor achtzehn Jahren die Stricke um ihre Handgelenke durchtrennt hatte.
Und zu allem Überfluss war sie auch noch mit dem Abendessen dran. Sie wusste zwar, dass sie unter diesen Umständen niemand dazu verpflichten würde, trotzdem wollte sie es zubereiten. Als eine Art Versöhnungsgeste.
Und sie musste einen Weg finden, mit ihrer Angst umzugehen, die sich wieder in ihr ausgebreitet hatte. Sie wusste zwar, dass sie nur auf Einbildung beruhte, dennoch lag sie ihr wie ein Stein im Magen. Ein Arzt würde vermutlich mit ihr darüber sprechen und ihr Tabletten verschreiben wollen – darüber würde sie sich später Gedanken machen –, heute Nacht würde ihr das auch nicht weiterhelfen.
Es war bereits fast fünf, als sie wieder bei der Scheune ankam, die Wintersonne ging gerade unter. Die Scheune warf einen langen, verzerrten Schatten über den Parkplatz vor der Tür. Im Wohnzimmer brannte Licht, das aus den zwei Fenstern auf die Terrasse fiel.
Sie parkte das Auto direkt vor dem Haus, atmete ein paar Mal tief durch, nahm dann ihre Handtasche, das Päckchen mit dem Fleisch und ging in die kalte Abendluft hinaus. Auf halber Treppe zum Eingang blieb sie stehen und runzelte die Stirn. Die Stimmen drinnen klangen seltsam. Sie nahm die letzten beiden Stufen und lauschte vom Rand der Veranda aus. Corrines Gelächter klang wie das Kichern eines kleinen Mädchens, es war wohl wieder reichlich Champagner geflossen. Louise sagte irgendwas, das sie nicht verstehen konnte, dann kicherte Hannah. Auf ein kurzes Schweigen folgte die gedämpfte Stimme eines Mannes, der etwas sagte wie: »Toll, was ihr aus der Hütte gemacht habt.«
Jodie bekam eine Gänsehaut. Obwohl sie gerade dreißig Kilometer gefahren war und sich auf dem Weg ständig vorgesagt hatte, dass ihre Angst reine Einbildung war, stieg Beklemmung in ihr auf und presste ihr die Luft aus den Lungen. Wer zum Teufel redete da?
Sie stand in der frühen Abenddämmerung, versuchte leise zu atmen und fragte sich, was da drinnen los war. Reiß dich zusammen, Jodie. Reiß dich verdammt noch mal zusammen. Niemand da drinnen klang irgendwie besorgt. Hör auf, so verdammt paranoid zu sein. Sie nahm die letzten vier Stufen zum Eingang und stieß die Tür auf.
Das große Wohnzimmer war in sanftes Licht getaucht, ein Holzscheit brannte im offenen Kamin, eine Flasche Wein stand auf dem Couchtisch, niemand war zu sehen. Stimmen drangen durch den Flur – Männer- und Frauenstimmen. Waren sie im Schlafzimmer? Dann trat Louise aus dem Flur.
»Jodie.« In ihrem Blick lagen Erleichterung, Sorge und Unsicherheit. »Alles in Ordnung?«
»Tut mir leid wegen … Es geht mir gut. Ich habe den Wagen mitgebracht.« Sie wollte noch nicht mit den Entschuldigungen anfangen, solange andere Leute in der Scheune waren. »Wer ist denn da?«
Lou ignorierte ihre Frage und umarmte sie. In einer Hand hielt sie ein Glas Wein, Jodie spürte, wie sie es gegen ihren Rücken presste, und dann flüsterte sie ihr zu. »Du warst so lange weg. Ich hatte befürchtet, du würdest nach Hause fahren. Es tut mir wirklich sehr leid. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
»Sie ist zurück«, klang Hannahs Stimme aus dem Flur, doch ihr Ton drückte aus, dass es nicht zu einer kollektiven Umarmung kommen würde.
Jodie sah durch den Raum, als Louise sie wieder losgelassen hatte, und bemerkte Corrine, die hinter Hannah ins Zimmer gehumpelt kam.
»Ich habe dir doch gesagt, dass sie zurückkommt«, sagte Corrine, doch Jodies Blick war auf den Mann geheftet, der in der Tür stand.
Kurzer Haarschnitt, Arbeiterhemd, Jeans, feste Schuhe, irgendwie kam er ihr
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