Die Beute
wie viel hast du in der Dunkelheit da draußen gesehen? Es waren doch nur schemenhafte Gestalten in dicken Mänteln und Kappen gewesen. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und dann durch ihr Haar. Der Kerl rechts hatte ihr gestern Abend definitiv seine Bierfahne ins Gesicht geblasen. Aber war das nicht direkt nach dem Flashback gewesen? Als sie aus dem Gleichgewicht geraten und völlig verängstigt war? Vielleicht war er nicht so bedrohlich, wie sie gedacht hatte. Vielleicht hatte sie ihm völlig grundlos ihre Hände in den Bauch gerammt und getreten.
Der andere hatte sich jetzt ein wenig in Richtung Küche gewandt. Er sah durch den Raum und musterte sie aufmerksam. Sein Gesicht wirkte hart und ausdruckslos, sein Kiefer war kantig, er sah sie unbeirrt an. Oder bildete sie sich das auch nur ein? Ganz egal ob Einbildung oder nicht, sie bekam wieder eine Gänsehaut.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, legte sie eine Hand auf Hannahs Arm und drückte ihn fest. Sie wollte, dass Hannah ihn sich genau ansah, musste ihre Reaktion sehen.
»Jodie, trink was«, sagte Hannah, schob ihre Hand fort und nahm den Teller. »Und zwar ordentlich, o. k.? Bitte.« Sie ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer. »Will irgendwer Käse und Cracker? Jodie, bring die Flasche mit.«
Oh Gott, sie war tatsächlich am Überschnappen. Achtzehn Jahre nachdem man ihr das Messer in den Bauch gerammt hatte, blutete sie immer noch. Sie musste was trinken.
Sie holte eine Flasche aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein Glas ein, und dabei zitterten ihre Hände so heftig, dass sie Wein auf dem Boden verschüttete. Sie trug beides durch das Zimmer und war froh, etwas in der Hand zu halten. Sie hätte tun können, was Hannah ihr geraten hatte, ins Schlafzimmer gehen und ihren Verstand woanders verlieren, aber sie wollte nicht alleine sein, wollte nicht auf dem Bett sitzen und sich ihren Kopf darüber zerbrechen, was echt und was Einbildung war. Sie stand mit ihrem Glas neben Louise, die sich auf die Armlehne des Sofas gesetzt hatte. So war sie am weitesten vom Kamin entfernt und am nächsten an der Tür. Der Wein schmeckte wie Essig, sie zwang sich aber zu einem weiteren Schluck. Reiß dich zusammen, Jodie. Versuch es zu klären. Schau, ob du dazu noch fähig bist.
Travis, der den Blick nicht von ihr gelassen hatte, sah schließlich weg und nahm sich Cracker und Käse. Während er kaute, ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten. Aus der Nähe sah Jodie, dass er blaue Augen hatte. Dunkelblau, zwei dunkle Scheiben. Sie waren so dunkel, wie die des anderen hell waren, und bewegten sich ständig zwischen dem Eingang zur Küche, den Glasfenstern im hinteren Teil der Scheune und den Frauen auf den Sofas. »Ihr seid also zu viert hier?«, fragte er.
»Ja, nur wir vier«, sagte Corrine. »Wir verbringen ein Frauenwochenende.«
»Ach?«
»Na klar, wir fahren jedes Jahr wohin. Lassen Kinder und Ehemänner zurück. Machen uns eine tolle Zeit, was, Mädels?«
Hannah nickte, Lou pflichtete ihr lächelnd bei. Jodie schluckte.
Travis wies mit seinem Weinglas quer durch den Raum. »Wir haben gesehen, was die Damen so im Kühlschrank haben, deshalb dachten wir, ihr würdet noch Freunde erwarten.«
»Oh, nein, wir essen viel«, lachte Corrine ein wenig verlegen und zugleich stolz auf ihr Einkaufstalent.
Er warf dem blonden Kerl einen kurzen Blick zu. »Dann macht es euch sicher nichts aus, noch jemanden mitzufüttern.«
Dem folgte ein kurzes Schweigen, als überlegten die Beteiligten, wie er das gemeint haben könnte. Jodie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Es fühlte sich falsch an, aber offenbar konnte sie sich auf ihren Instinkt nicht mehr verlassen.
»Oh, keine Sorge. Wir essen nicht viel, oder, Kane?«
Kane, der aus dem Pub, grinste, als handle es sich um einen Insiderwitz. »Nö, ich und Travis, wir essen nicht viel.«
»Wir haben gut zu Mittag gegessen, was?«
»Klar.«
»Wir haben ein paar hübsche Steaks verdrückt. Jeder zwei.« Travis sah die vier Frauen der Reihe nach an, zog einen Mundwinkel hoch und lächelte hinterhältig. »Sehr gute Steaks.«
Jodie erstarrte. Vier Steaks.
»Ja, richtig gute«, sagte Kane.
»Die waren aber nicht besonders groß, die hätten nicht einmal einen kleinen Hund satt gemacht. Und wahrscheinlich hättet ihr Mädels sie noch viel besser gebraten, aber das könnt ihr ja noch nachholen, was, Kane?«
Kane lachte. Ein hässliches, spöttisches Lachen.
Jodie sah schnell ihre Freundinnen an. Louise lächelte
Weitere Kostenlose Bücher