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Die Beute - 2

Die Beute - 2

Titel: Die Beute - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Tiere könnten die hohen Mauern hinaufklettern. Und weiter weg begann erst der eigentliche Zauber. Der Hafendamm, dessen stufenweise ansteigende Bohlen den Strebemauern einer Kathedrale ähnlich sahen, und die Pont de Constantine, die, leicht gebaut, wie ein Spitzengewebe unter den Füßen der Passanten schwankte, trafen im rechten Winkel aufeinander und schienen die ungeheure Wassermasse des Flusses zusammenzuhalten und aufzustauen. Die Bäume bei der gegenüberliegenden Halle aux vins70 und weiter hinaus die Laubmassen des Jardin des Plantes71 breiteten ihr üppiges Grün bis an den Horizont, indes auf der anderen Flußseite der Quai Henri IV und der Quai de la Râpée ihre niedrigen und unregelmäßigen Bauten aneinanderreihten, Häuserzeilen, die, von oben gesehen, kleinen Häuschen aus Holz und Pappe glichen, wie sie in den Spielzeugschachteln der beiden Kinder lagen. Rechts im Hintergrund schimmerte das Schieferdach der Salpêtrière blau über die Bäume hinweg. Und in der Mitte bildeten die breiten, gepflasterten SeineUfer zwei lange, graue Fahrstraßen, auf die hier und da eine Reihe Fässer, ein Gespann, eine Schiffsladung Holz oder ein Kohlenhaufen ungleichmäßige Flecken malten. Doch die Seele des Ganzen, die Seele, die diese ganze Landschaft erfüllte, war die Seine, dieser lebendige Fluß; sie kam von weither, vom verschwommenen, zitternden Rand des Horizonts, sie entsprang dort in der Ferne wie aus einem Traum, um in ihrer ruhigen Majestät, mächtig angeschwollen, geradenwegs auf die Kinder zuzuströmen und sich zu ihren Füßen an der Inselspitze zu einer großen Wasserfläche zu verbreitern. Die beiden Brücken, die den Fluß schnitten, die Pont de Bercy und die Pont d’Austerlitz, wirkten wie notwendige Dämme, dazu bestimmt, die Seine in ihrem Lauf aufzuhalten, sie daran zu hindern, bis an das Kinderzimmer zu steigen. Die Kleinen liebten den riesigen Strom, sie konnten sich nicht satt sehen an diesem gewaltigen Dahinfließen, dieser ewig rauschenden Flut, die auf sie zurollte, als wolle sie bis zu ihnen gelangen, und sich dann plötzlich teilte und nach rechts und links in unbekannte Fernen entschwand, sanft wie ein gebändigter Titan. An schönen Tagen mit blauem Morgenhimmel waren sie ganz entzückt von den feinen Kleidern der Seine; es waren Gewänder, die in tausend Schattierungen von unendlicher Zartheit von Blau zu Grün wechselten, wie aus Seide, die mit weißen Flämmchen getupft und mit Atlasrüschen besetzt war; und die Kähne, die im Schutz der beiden Ufer lagen, säumten sie mit schwarzen Samtbändern. Besonders aus der Ferne sahen die Stoffe herrlich und kostbar aus, wie der zauberhafte Flor eines Feengewandes. Auf die dunkelgrünen seidenen Bande, mit denen der Schatten der Brücken die Seine umspannte, folgten goldene Plastrons72, Bahnen von gefälteltem sonnenfarbenen Gewebe. Unendlich wölbte sich der Himmel über diesem Wasser, diesen niedrigen Häuserreihen und dem Grün der beiden Parkanlagen.
    Zuweilen, wenn Renée, jetzt schon ein großes Mädchen, das aus dem Pensionat sinnliche Neugier mit nach Hause gebracht hatte, dieses großen Horizontes müde war, warf sie einen Blick in die Schwimmschule der Badeanstalt Petit, die wie ein Schiff an der Inselspitze vor Anker liegt. Zwischen den flatternden Badetüchern hindurch, die, an Stricken aufgehängt, gewissermaßen das Dach ersetzten, versuchte sie, die nur mit Badehosen bekleideten Männer zu erspähen, deren nackte Bäuche man flüchtig wahrnehmen konnte.

Kapitel III
    Maxime blieb bis zu den großen Ferien des Jahres 1854 auf dem Gymnasium von Plassans. Er zählte damals dreizehn Jahre und einige Monate und hatte gerade seine fünfte Klasse hinter sich gebracht. Zu diesem Zeitpunkt beschloß sein Vater, ihn nach Paris kommen zu lassen. Er sagte sich, daß ein Sohn dieses Alters die Aufmerksamkeit auf ihn lenken und ihn entscheidend in seiner Rolle als reichen und ernsthaften wiederverheirateten Witwer stützen werde. Als er Renée, gegen die er sich mit betonter, äußerster Galanterie verhielt, von seinem Plan erzählte, meinte sie gleichgültig: »Ja schön, laß den Jungen nur kommen … Vielleicht bringt er uns ein bißchen Zerstreuung. Vormittags ist es hier sterbenslangweilig!«
    Acht Tage später traf der Junge ein. Er war ein schmächtiger, schon hochaufgeschossener Schlingel mit einem Mädchengesicht, zarten und zugleich frechen Zügen und semmelblond. Aber, großer Gott, wie sah er aus! Bis an die Ohren

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