Die Beute - 2
hätte man sich tausend Meilen fern von jenem neuen Paris gewähnt, wo im Lärm der Millionen alle heißen Genüsse aufloderten.
In den Räumen des Hauses herrschte die gleiche traurige Stille, die gleiche kühle Feierlichkeit wie im Hof. Verbunden durch eine breite Treppe mit eisernem Geländer, auf der die Schritte und das Husten der Besucher wie unter einem Kirchengewölbe hallten, reihten sich lange Fluchten weiter, hoher Zimmer aneinander, in denen wie verloren schwerfällige alte Möbel aus dunklem Holz standen, und das Zwielicht wurde nur belebt von den Gestalten auf den Gobelins, deren große bleiche Körper man undeutlich wahrnahm. Der ganze Luxus des alten Pariser Großbürgertums war hier versammelt, ein unverwüstlicher, herber Luxus, Stühle, deren Eichenholz notdürftig mit einer dünnen Schicht Werg gepolstert ist, Betten mit starren Stoffen, Wäschetruhen, deren rauhe Bretter das leichtverletzliche Leben moderner Kleider sehr gefährden würden. Herr Béraud Du Châtel hatte sich im düstersten Teil seines Hauses eingerichtet, im ersten Stock, zwischen Straße und Hof. Hier lebte er in einer wundervollen Atmosphäre von Sammlung, Stille und Zurückgezogenheit. Wenn er die Türen aufmachte und mit seinem langsamen und bedächtigen Schritt die feierlichen Räume durchmaß, hätte man ihn für eines der Mitglieder der alten Parlamente67 halten können, deren Porträts an den Wänden hingen, wie es im Nachdenken versunken nach Hause zurückkehrt, nachdem es ein königliches Dekret diskutiert und ihm die Unterschrift verweigert hat.
Aber in diesem erstorbenen Haus, diesem Kloster, gab es dennoch ein lebenswarmes Nest, einen Raum voll Sonne und Frohsinn, einen herrlichen Winkel der Kindheit, erfüllt von Luft und Licht. Man mußte eine Unmenge kleiner Treppen hinaufklettern, zehn oder zwölf Gänge passieren, abwärts und wieder hinaufsteigen, mußte geradezu eine Reise machen, und dann gelangte man endlich in ein riesiges Zimmer, eine Art Belvedere68 auf dem Dach des Hinterhauses, hoch über dem Quai de Béthune. Es lag direkt gegen Süden. Das Fenster war so groß, daß der Himmel mit all seinen Strahlen, all seiner Luft und seinem ganzen Blau hereinzuströmen schien. In der Höhe schwebend wie ein Taubenschlag, war der Raum mit langen Blumenkästen und einem ungeheuer großen Vogelhaus ausgestattet, enthielt aber kein einziges Möbelstück. Man hatte lediglich eine Matte über den Fußboden gebreitet. Das war das »Kinderzimmer«. Im ganzen Hause kannte und nannte man es nur mit diesem Namen. Das Haus war so kalt, der Hof so feucht, daß Tante Elisabeth für Christine und Renée den kühlen Hauch, der aus den Mauern wehte, gefürchtet hatte; so manchesmal hatte sie die wilden Kinder gescholten, wenn sie unter den Arkaden umherliefen und sich damit vergnügten, die kleinen Arme in das eisige Brunnenwasser zu tauchen. Da war sie auf den Gedanken gekommen, diese abgelegene Dachstube für sie ausbauen zu lassen, den einzigen Raum des Hauses, wo die Sonne hinkam und seit bald zwei Jahrhunderten ganz allein ihr Spiel zwischen den Spinnweben trieb. Sie gab den Kindern eine Matte, Vogel und Blumen. Die beiden Wildfänge waren begeistert. Ihre ganzen Ferien verbrachte Renée hier oben in dem goldenen Strahlenbad der gütigen Sonne, die selbst erfreut schien über ihren so schön herausgeputzten Schlupfwinkel und die beiden Blondköpfchen, die man ihr hinaufgeschickt hatte. Das Zimmer wurde zu einem Paradies, das vom Gezwitscher der Vögel und vom Schwatzen der Kleinen widerhallte. Man hatte es ihnen als unumschränktes Eigentum überlassen. Sie sagten »unser Zimmer«; hier waren sie zu Hause; sie schlossen sich sogar dort ein, um sich selber zu beweisen, daß sie die Alleinbesitzerinnen waren. Welch glücklicher Winkel! Eine Unmenge zerbrochenes Spielzeug lag im hellen Sonnenschein auf der Matte umher.
Zu den großen Freuden dieses Kinderzimmers gehörte auch der weite Ausblick. Aus den übrigen Fenstern des Hauses sah man nichts als schwarze, nur wenige Meter entfernte Mauern. Aber vor diesem hier lag der ganze Abschnitt der Seine, das ganze Stück Paris, das sich riesengroß und flach von der Cité69 bis zur Pont de Bercy erstreckt und einer echt holländischen Stadt gleicht. Unten auf dem Quai de Béthune gab es halbverfallene Holzbaracken, Mengen schadhafter Dächer und aufgestapelter Balken, zwischen denen zum Vergnügen der Kinder feiste Ratten umherliefen, wobei die beiden unbewußt befürchteten, die
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