Die Beute - 2
ihre Augen reichten, nichts als die symmetrisch angeordneten Kioske, die rote und grüne Flecken in die Finsternis setzten, ohne sie zu erhellen, wie in regelmäßigen Abständen aufgestellte Nachtlichtchen eines riesigen Schlafsaals. Renée hob den Kopf. Die obersten Zweige der Bäume zeichneten sich auf dem hellen Himmel ab, während sich die unregelmäßige Zeile der Häuser gleich den ungeordneten Massen einer Felsenküste am Ufer eines bläulichen Meeres verlor. Doch dieses Stückchen Himmel stimmte Renée noch trauriger, und nur in der Dunkelheit des Boulevards fand sie ein wenig Trost. Das, was dort unten auf der verlassenen Straße vom Geräusch und Laster des Abends zurückgeblieben war, entschuldigte auch sie. Sie vermeinte zu spüren, daß die Wärme all der Männer und Frauenschritte von dem nun kühl werdenden Bürgersteig zu ihr heraufsteige. Die Schande, die dort umhergeirrt war, Begierden eines Augenblicks, geflüsterte Angebote, vorausbezahlte Genüsse einer einzigen Nacht, all das wurde zu Dunst, ballte sich zu einem schweren Brodem zusammen, den der Morgenwind vor sich hertrieb. Über das Dunkel gebeugt, atmete sie diese fröstelnde Stille, diesen Alkovenduft ein wie etwas Ermutigendes, das aus der Tiefe zu ihr heraufkam, wie die Zusicherung, daß an ihrer Schuld eine ganze Stadt teilhabe, sie billige, ihr Helfershelfer sei. Und nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie die Frau in dem blauen Kostüm mit der Gipürspitzengarnitur, wie sie noch immer an der gleichen Stelle stand, allein in der grauen Einsamkeit, wartend und sich den leeren Schatten anbietend.
Als sich die junge Frau umdrehte, erblickte sie Charles, der witternd um sich schaute. Schließlich entdeckte er Renées blaues Band, das vergessen und zerdrückt in der Diwanecke lag. Und er beeilte sich, es ihr mit seiner glatten Miene zu bringen. Da empfand sie ihre ganze Schmach. Hochaufgerichtet vor dem Spiegel, versuchte sie mit ungeschickten Händen das Band wieder zu knüpfen. Aber ihr Haarknoten hatte sich gelockert, die kleinen Löckchen klebten ihr an den Schläfen, es gelang ihr nicht, die Schleife wieder zu binden. Charles kam ihr zu Hilfe, und in dem Ton, mit dem man etwas Selbstverständliches anbietet, eine Spülschale oder einen Zahnstocher, fragte er: »Wünschen gnädige Frau vielleicht den Kamm?«
»Ach was! Das ist nicht nötig«, unterbrach Maxime, der dem Kellner einen gereizten Blick zuwarf. »Besorgen Sie uns eine Droschke!«
Renée entschloß sich, einfach die Kapuze ihres Dominos über den Kopf zu ziehen. Und im Begriff, vom Spiegel wegzutreten, reckte sie sich nochmals leicht auf, um die Worte zu finden, an deren endgültiger Entzifferung Maximes Umarmung sie gehindert hatte. Schräg nach oben laufend stand da in einer groben, abscheulichen Schrift die mit »Sylvia« unterzeichnete Erklärung: »Ich liebe Maxime!« Renée machte einen schmalen Mund und zog sich die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht.
Im Wagen empfanden beide eine furchtbare Verlegenheit. Sie hatten sich, genau wie bei ihrer Herfahrt vom Parc Monceau, einander gegenübergesetzt. Sie wußten nichts zu sagen. Die Droschke war von dichter Finsternis erfüllt, und Maximes Zigarre malte nicht einmal mehr ein rotes Pünktchen, einen Hauch rosiger Glut in das Schwarz. Der junge Mann, abermals fast begraben unter den Röcken, die ihn vorher »bis an die Augen« bedrängt hatten, litt unter der Finsternis, dem Stillschweigen, unter dieser stummen Frau, die er neben sich fühlte, und er stellte sich vor, wie sie mit weit geöffneten Augen in die Nacht starrte. Um weniger hilflos zu erscheinen, tastete er schließlich nach ihrer Hand, und als er sie in der seinen hielt, fühlte er sich erleichtert und fand die Situation erträglich. Diese Hand überließ sich! ihm weich und verträumt.
Der Wagen fuhr über den Place de la Madeleine. Renée überlegte, daß sie nicht schuldig sei. Sie hatte die Blutschande nicht gewollt. Und je mehr sie über sich nachdachte, desto unschuldiger fand sie sich, sowohl während der ersten Stunden ihres Abenteuers, bei ihrem heimlichen Entwischen durch den Parc Monceau, wie bei Blanche Muller und auf dem Boulevard, ja sogar im Séparée des Restaurants. Wie kam es eigentlich, daß sie an der Diwanecke in die Knie gesunken war? Sie wußte es nicht mehr. Sie hatte bestimmt keinen Augenblick an so etwas gedacht. Sie würde sich voller Zorn gewehrt haben. Sie hatte nur lachen, nur lustig sein wollen,
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