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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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anderen je ein Sterbenswörtchen hatte verlauten lassen. Aber danach hatte sie sich in Gerswinds Gegenwart noch sicherer gefühlt. Ein Mensch, der über solche Fähigkeiten verfügte und sie unter die Fittiche genommen hatte, würde immer dafür sorgen können, daß ihr nichts Böses zustieß.
    Der Morgen graute schon fast, als ihr einfiel, daß Gerswind in unruhigen Nächten das Schlafgemach verließ, um an der frischen Luft umherzugehen. Danach konnte sie immer tief und fest schlafen. Hruodhaid bewunderte Gerswinds Mut, denn in finsterer Nacht hätte sie selbst keinen Schritt allein vor die Tür getan. Die ersten Morgenstunden waren da erheblich einladender. Vor allem, da an diesem Tag Äbtissin Gisela eintreffen sollte. Hruodhaid stellte sich vor, wie schön es doch wäre, ihre alte Beschützerin als erste in Aachen willkommen zu heißen und eine kurze Zeit allein mit ihr verbringen zu können, ehe die Äbtissin vom Rest des Hofs vereinnahmt wurde. Sie würde ihr entgegengehen. Rasch zog sie sich an.
    Sie nickte der Wache vor dem Wohnturm des Palatiums freundlich zu, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, daß sie um diese Zeit ins Freie trat, und kam sich sehr verwegen vor, als sie auf den Wald zuging. Gerswind hatte ihr dort vor langer Zeit jene Stelle gezeigt, die sie gelegentlich selbst aufsuchte, wenn sie dem Hofgeschehen entfliehen wollte. »Eine Stätte der Stille, wo ich Kraft schöpfe«, hatte sie zu Hruodhaid gesagt, damit die Freundin sie finden könne, wenn sie sich um sie sorgte.
    Diese Stätte, die nicht fern dem Pfad lag, an dem Äbtissin Gisela durchkommen mußte, steuerte Hruodhaid jetzt an.
    Plötzlich hörte sie Stimmen, und da wurde ihr das Ungeheuerliche ihres Vorhabens bewußt. Sie begann zu zittern und suchte nach einem Gebüsch, hinter dem sie sich verbergen konnte.
    Vor lauter Erleichterung wäre sie fast aufgesprungen, als sie die Näherkommenden erkannte. Ihr Vater und Äbtissin Gisela ritten durch den Wald und waren offenbar in ein angeregtes Gespräch vertieft. Doch dann bedachte sie, daß ihr der König gewiß Vorhaltungen machen würde, wenn er sie allein im Forst antraf. Also blieb sie hinter dem Gebüsch hocken. Jetzt konnte sie jedes Wort der beiden verstehen. Staunend vernahm sie, daß es um sie ging, um Hruodhaid, des Königs Tochter.
    »Du weißt, daß ich keine meiner Töchter einem Mann zur Frau geben werde«, sagte der König erregt und zügelte seinen Hengst.
    Äbtissin Gisela schnaubte. »Aber Hruodhaid ist auch meine Tochter! Oder hast du etwa die Nacht vergessen, in der wir sie geschaffen haben?«
    Hruodhaid riß den Mund auf, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle. Entsetzt hielt sie sich die Ohren zu, weil von irgendwoher mit einem Mal ein entsetzlich dröhnendes Rauschen ertönte, in das sich ein gellender Pfeifton mischte. Ihr ganzer Körper bebte. Sie stürzte rücklings hin und blieb eine lange Zeit so liegen. Als sie sich wieder aufrichtete, waren die Sprechenden und die fürchterlichen Geräusche verschwunden.
    Blutschande, dachte sie entsetzt, ich bin ein Kind der Blutschande! Sie wollte es laut aussprechen, es dem ganzen Wald kundtun. Doch als sie den Mund öffnete, brachte sie keinen Ton hervor. Sosehr sie sich auch mühte, kein Laut wollte über ihre Lippen kommen. Hruodhaid war verstummt.

10
    Wunden
    Im Jahr 799
    Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in Aachen und im ganzen Reich die Nachricht von der Reise des geschundenen und so wundersam geheilten Papstes ins Frankenland. Unzählige Gläubige zogen mit ihren blinden und stummen Verwandten Christi Stellvertreter entgegen, um ihn zu sehen und zu hoffen, daß auch ihnen durch die Gnade seiner Gegenwart Augenlicht oder Sprache wiedergegeben werde.
    Eine solche Gruppe traf in einem Waldstück nahe dem Königspalatium auf ein verwirrt aussehendes Mädchen mit flammendroten Locken, das seinen Kopf unaufhörlich gegen einen Baum stieß und aus dessen Kehle kein Laut kam. Niemand wußte, wer die sehr junge Frau war oder woher sie kam. Als deutlich wurde, daß sie zwar hören konnte, aber ganz und gar stumm war, als wäre ihr, wie kurz zuvor dem Heiligen Vater, die Zunge herausgerissen worden, trat eine Frau vor und forderte ihre Mitreisenden auf, das Mädchen mitzunehmen. Als die anderen zögerten, zitierte sie Jesu Wort: »Ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das

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