Die Beutefrau
ewige Leben.« Sie musterte ihre Begleiter und fügte hinzu: »Vielleicht ist uns dieses Geschöpf als Prüfung Gottes gesandt worden. Möchtest du dich uns anschließen?« fragte sie das Mädchen freundlich.
Hruodhaid nickte heftig. Ihr war alles recht, was sie so weit wie möglich vom Hof entfernte. Schon bald würde die Suche nach ihr einsetzen, doch sie konnte unmöglich ins Palatium zurückkehren und ihren Eltern unter die Augen treten.
Nie hätte sie sich wie Gerswind allein in die Welt hinausgetraut, doch ebensowenig vermochte sie im Wissen um ihre Abkunft ihren Vater jemals wieder anzusehen. Und Äbtissin Gisela, ihre Mutter, noch viel weniger. Sie würde vor Scham sterben. Stundenlang hatte sie sich im Wald selbst gequält, sich Dornen in die Haut gesteckt, sich Unterarme und Waden aufgeritzt und war mit bloßen Füßen auf scharfe Steinchen getreten, aber kein Schrei, nicht einmal ein Winseln, wollte aus ihrer Kehle kommen. Hruodhaid war derart verzweifelt, daß sie mit jedem, der sie gefragt hätte, bis ans Ende der Welt gegangen wäre.
Äbtissin Gisela warf ihrem Bruder vor, Hruodhaid absichtlich versteckt zu halten, damit sie das Mädchen nicht mit nach Chelles nahm und dort gegen Karls Willen verheiratete. Er wies empört daraufhin, daß er erst im Wald von diesen Heiratsplänen erfahren habe und Hruodhaid bei ihrer gemeinsamen Ankunft am Hof bereits verschwunden war. Suchtrupps wurden ausgesandt, die gesamte Gegend durchkämmt, aber Hruodhaid blieb unauffindbar. Gisela nahm die Schwestern ins Gebet, um von ihnen zu erfahren, ob Hruodhaid möglicherweise mit einem Mann durchgebrannt war.
»Soweit ich weiß, trauert sie immer noch ihrem gemeuchelten Königsboten nach«, sagte Rotrud und fügte hinzu: »Gerswind kennt sie besser, aber die ist jetzt leider in Prüm.«
Obwohl sich niemand vorstellen konnte, daß sich die unbeholfene Hruodhaid allein auf den weiten Weg zu ihrer Freundin gemacht haben könnte, wurde sofort ein Brief dorthin gesandt. Mehr konnte Karl vorerst nicht tun. Denn die Angelegenheit mit dem Papst erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit.
Er schickte Erzbischof Hildebold von Köln und Graf Askarius in den Süden, um den Papst zu begrüßen und nach Norden zu geleiten, und rief seine Söhne und Berater zusammen. Den Heiligen Vater werde er nicht im stets prächtiger werdenden Aachen empfangen, teilte er ihnen mit, sondern nach dem Feldzug gegen die Aufständischen in Paderborn, im Herzen des Sachsenlandes. Sobald sich der Papst auf fränkischem Boden befand, sollte er von König Pippin begrüßt und nach Paderborn geführt werden. Karl erinnerte sich daran, wie er selbst als Knabe von seinem Vater Pippin und seiner Mutter Bertrada ausgesandt worden war, um dem damaligen Papst Stephan entgegenzureiten. Auch jener Papst hatte sich hilfesuchend an den Herrn des Abendlandes gewandt. Allerdings hatten ihn nicht die eigenen Landsleute bedroht, sondern die Langobarden.
Jetzt überquerte also zum zweiten Mal in der Geschichte ein Heiliger Vater die Alpen, um sich die Unterstützung des Frankenkönigs zu sichern. Half ihm Karl, würde sich Leo auf irgendeine Weise erkenntlich zeigen müssen.
Papst Stephan hatte damals zum Dank für Pippins Beistand das Königtum von Karls Vater bestätigt und auch dessen Gemahlin Bertrada zur Königin gesalbt. Ein Königtum, das wiederum einem anderen Pontifex zu verdanken war, der seinerseits gleichfalls um Hilfe aus dem Norden nachgesucht hatte: Papst Zacharias hatte ein halbes Jahrhundert zuvor die einstmals Ostrom zugehörigen italischen Gebiete beansprucht, die damals unter langobardischer Herrschaft standen, und sich dabei auf den oströmischen Kaiser Konstantin berufen, der Jahrhunderte zuvor aus Dank für seine Heilung vom Aussatz dieses Land dem Heiligen Stuhl geschenkt hatte. Allerdings waren dafür zunächst keine schriftlichen Beweise mehr vorhanden gewesen. Doch dann tauchte die verlorengeglaubte Schenkungsurkunde plötzlich doch auf. Karl hegte den Verdacht, daß seine von politischem Ehrgeiz getriebene Mutter dabei die Hand im Spiel gehabt und möglicherweise den Papst zu einer Fälschung angeregt haben könnte. Denn die damalige Stellung seines Vaters als Hausmeier eines überaus schwachen Merowingerkönigs war alles andere als gesichert, und im eigenen Land drohten Machtkämpfe. Der inländische Adel sah nicht ein, weshalb er sich dem Emporkömmling Pippin unterordnen sollte. Doch nachdem dieser für den Papst riesige Landstriche erobert
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