Die Beutefrau
Strahlen der Mittagssonne tanzten über buntgemusterte Teppiche, die an den Wänden hingen und den Holzboden bedeckten. Sie ließen die farbenprächtigen Steine aufleuchten, die in das Kopfende des großen Bettes eingearbeitet waren, und beschienen einen feingeschnitzten Tisch, vor dem ein ebenfalls sorgfältig gearbeiteter Stuhl mit einem Seidenkissen stand. In einer Ecke sah Gerswind ein schmales Pult, in einer anderen eine kunstvoll bemalte Kleidertruhe. Vorsichtig hob sie deren Deckel an. Die Truhe war leer wie auch das mit Samt ausgeschlagene Schmuckkästchen aus getriebenem Silber auf dem Tisch. Überhaupt erschien das ganze Gemach unbewohnt. Gerswind ergriff den Stuhl, stellte ihn ans Fenster und schwelgte darin, im Schutz eines Hauses sitzend, hinaus auf den Wald blicken zu können, der sich vor ihren Augen erstreckte. Welch ein Genuß!
»Gefällt dir die Kammer?« Gerswind fuhr herum. In der Tür stand der Kaiser, der auf den Armen Drogo hielt, seinen jüngsten Sohn, den ersten, der ihm als Kaiser geboren worden war. Deshalb betrachtete sich auch die Kindesmutter Regina als heimliche Kaiserin, verlangte von ihren Mägden einen Kniefall und würdigte die anderen Beischläferinnen kaum eines Wortes mehr. An diesem Tag war Regina allerdings zu Ohren gekommen, daß eine Gesandtschaft aus Byzanz eine schreckliche Nachricht überbracht hatte: Irene hatte Karls Antrag angenommen und hochrangige Würdenträger zu weiteren Verhandlungen über die Eheschließung an ihren Hof eingeladen. Karl, der befürchtete, daß Regina ihre Wut an dem Kind auslassen könnte, war augenblicklich zu ihr geeilt und hatte sie mit den Worten besänftigt, daß Jahre vergehen könnten, ehe eine solche politische Ehe wirklich geschlossen würde. Außerdem sei Irene uralt und so häßlich, daß er sie im Leben nicht anfassen würde.
Achmed hatte Weisung, den Kaiser umgehend zu benachrichtigen, falls Gerswind jemals das Gebäude betreten sollte. Er mußte nicht weit gehen, um diese Mitteilung zu überbringen. Karl verließ sofort Reginas Gemach.
»Das herausnehmbare Glas«, er deutete stolz zum Fenster, »hat mir Achmed vorgeschlagen. Ist doch großartig, oder nicht? Man kann gleichzeitig drinnen und draußen sein. Sag schon«, drängte er jetzt. »Dieser Raum ist doch einer Kaiserin würdig, nicht wahr?«
Gerswind fing sich wieder. »Willst du etwa Irene hier unterbringen?« fragte sie spitz.
Karl lachte gutmütig. »Nein. Hier soll die Kaiserin meines Herzens wohnen. Du weißt, wer das ist.«
»Regina.«
»Ganz gewiß nicht.«
In der Stille, die diesen Worten folgte, war das Aufsperren eines Türschlosses vernehmbar, und einen Augenblick später stand Regina neben Karl in der Tür. Besitzergreifend lehnte sie sich an ihn und streichelte den Säugling in seinen Armen.
Welch rührendes Familienbild, dachte Gerswind angewidert.
Karl reichte Regina das Kind.
»Er riecht ein wenig streng«, sagte er. »Laß ihn säubern.« Und damit schob er Regina von sich, schloß die Tür und trat näher.
»Komm zu mir.« Der Kaiser ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder und klopfte einladend neben sich.
Gerswind preßte die Lippen zusammen, als sie auf die äußere Kante ihres Stuhls rutschte.
»Ich sehe gern alle meine Kinder aufwachsen«, sagte Karl im Plauderton.
»Wie schön, dann wird es dir nicht wie Hildebrand ergehen«, erwiderte Gerswind.
»Hildebrand? Sollte ich diesen Herrn kennen?«
»Er war der Waffenmeister des großen Theoderich. Teles hat mir von dem Lied erzählt, das seine Geschichte besingt.«
»Berichte«, forderte er sie auf.
In knappen Worten erzählte Gerswind von dem jungen Hadubrand, der fern von seinem Vater Hildebrand großgezogen wird, als Erwachsener diesem über den Weg läuft und ihn zum Zweikampf herausfordert, da er den eigenen Erzeuger nicht erkennt.
»Und wie endet die Geschichte?« fragte Karl gespannt.
Gerswind zuckte mit den Schultern. »Da gibt es anscheinend mehrere Überlieferungen. Der einen nach erschlägt der Vater den Sohn, nach einer anderen der Sohn den Vater, und nach einer dritten erkennt der Sohn, selbst ein großer Waffenmeister, den Vater an seiner scharfen Klinge, und beide fallen sich in die Arme. Eine Geschichte aus heidnischen Zeiten.«
»Kennst du noch mehr solcher Mären?«
Gerswind nickte. »Teles hat mir viele erzählt. Er fand es schade, wenn sie der Vergessenheit anheimfielen.«
»Da hatte er recht«, sagte der Kaiser nickend. »Schreib sie auf, Gerswind, und erhalte sie
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