Die bezaubernde Arabella
raubte ihr für einen Moment die Besinnung; dann rief sie heißblütig: »Papa, du bist ungerecht! Das ist doch wirklich zu arg!«
Der Vikar war kein gestrenger Vater; manche fanden, daß er seinen Kindern unerlaubt viel Freiheiten gewährte: eine solche Redeweise aber ging über alles hinaus, was er zu gestatten willens war. Sein Gesicht erstarrte, und er erwiderte mit eisiger Stimme: »Solch unbedachtsame Sprechweise, solch unbeherrschtes Betragen, ja, ein solcher Mangel an Respekt – all das zeigt nur zu deutlich, wie wenig du noch geeignet bist, in die Welt hinausgeschickt zu werden!«
Unter dem Tisch stieß Sophia Arabellas Fuß an; über dem Tisch warf Mama ihr einen warnenden, vorwurfsvollen Blick zu. Die Röte stieg ihr in die Wangen, Tränen füllten ihre Augen, und sie stammelte: »Verzeih mir, Papa!«
Darauf erfolgte keine Antwort. Mama brach das unbehagliche Schweigen, indem sie Harry in aller Geduld ermahnte, das Essen nicht zu hastig hinunterzuschlingen; und da weiter nichts Widriges eintrat, zog sie den Vikar in ein Gespräch über Angelegenheiten des Pfarrsprengels.
»Was ihr wieder für Staub aufwirbelt«, meinte Harry, als die jungen Leute in Mamas Ankleideraum geflüchtet waren und Bertram, dem das Essen hierher gebracht wurde, Bericht erstattet hatten.
»Mir ist erbärmlich bang«, sagte Arabella tragisch. »Er will mir die Reise verbieten.«
»Mumpitz! Das ist wieder nur eine von seinen Predigten! Mädchen nehmen alles viel zu ernst.«
»Soll ich hinuntergehen und ihn um Verzeihung bitten? Nein, ich traue mich nicht. Er hat sich ins Studierzimmer eingesperrt. Was soll ich tun?«
»Uberlaß alles Mama«, sagte Bertram gähnend. »Sie ist sehr schlau, und wenn sie will, daß du nach London fährst, dann fährst du auch.«
»Ich würde mich an deiner Stelle jetzt nicht in seine Nähe wagen«, sagte Sophia. »Du bist so aufgeregt, daß du gewiß irgend etwas Ungeschicktes sagst oder zu heulen beginnst. Du weißt doch, wie er übertriebene Empfindlichkeit verabscheut! Rede morgen früh nach der Andacht mit ihm.«
Auf diese Lösung einigte man sich. Aber auch dann war es, wie Arabella Bertram nachher gestand, schlimm. Mama hatte zu gründlich gearbeitet: bevor die verirrte Tochter des Vikars ein Wort ihrer sorgfältig einstudierten Entschuldigung vorbringen konnte, hatte er ihre Hand genommen und mit sanftem, traurigem Lächeln gesagt: »Liebes Kind, du mußt deinem Vater vergeben. Ich bin wirklich gestern sehr ungerecht zu dir gewesen. Ach, wie darf ich meinen Kindern Mäßigung predigen, wenn ich selbst so wenig Gewalt über mich habe?«
»Bertram, es wäre mir lieber gewesen, er hätte mich geprügelt«, gestand Arabella.
»Weiß Gott!« erklärte Bertram schaudernd. »Wie gräßlich! Bin nur froh, daß ich nicht unten war! Ich komme mir immer wie der Erzböse vor, wenn er anfängt, sich selbst zu tadeln. Was hast du gesagt?«
»Ich habe kein Wort hervorgebracht! Meine Stimme war ganz erstickt, und dabei hatte ich doch wieder Angst, daß er sich ärgern würde, weil ich meine Gefühle nicht besser beherrschen konnte. Aber er war nicht ungeduldig, gar nicht! Denk dir nur, er hat mich in die Arme genommen und geküßt und gesagt, daß ich seine gute Tochter sei, und das bin ich doch wirklich nicht, Bertram!«
»Na, deswegen brauchst du dich nicht in Aufregung hineinzureden«, empfahl der Bruder nüchtern. »Morgen, spätestens übermorgen weiß er nichts mehr davon. Wenn er wieder aus seiner Depression heraus ist.«
»Schön und gut, aber beim Frühstück kam es dann noch schlimmer! Er hat über diesen Londoner Plan geredet – hat über das leichtfertige Leben in der großen Welt gespöttelt, das ich dort führen werde, und gesagt, daß ich ganz bestimmt immer viele Seiten lange Briefe nach Hause schreiben muß, denn alles, was ich tue, wird ihn ungemein interessieren.«
Bertram betrachtete sie mit unverhohlenem Entsetzen. »Im Ernst?«
»In vollem Ernst! Alles das hat er auf die freundlichste Weise vorgebracht, nur mit so traurigen Augen – du kennst sie ja! Am liebsten hätte ich auf das ganze Projekt verzichtet.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Und der Gipfel von allem war… als ob ich noch nicht genug ausgehalten hätte!« (Arabella suchte nach dem Taschentuch.) »Kurz, er erklärte, etwas Schmuck müsse ich wohl auch haben, und darum würde er die Nadel mit der Perle, die er als junger Mann getragen, in einen Ring für mich umarbeiten lassen.«
Bertrams Gesicht wurde lang.
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