Die Bibliothek des Zaren
flog ihm feiner Schneestaub in den Mund.
»Da . . . Da steht doch die Residenz des Metropoliten von Antiochia!«
Der Apotheker lachte.
»Genau. Und jetzt, mein kühner Hauptmann, will ich Euch erzählen, warum Seine Exzellenz Taissi mich nicht mag. Als ich mir ausgerechnet hatte, wo sich das Versteck befinden muss, verdingte ich mich bei dem Metropoliten als Bibliothekar. Damals kannte ich noch nicht das wahre Ziel von Taissis Aufenthalt in Russland. Als ich unter seinen Papieren ein ganzes mit Informationen über die Liberey voll geschriebenes Heft entdeckte, nahm ich mich doppelt in Acht . . . Glücklicherweise folgte der Grieche einer falschen Fährte. Er ist bis heute davon überzeugt, Iwan der Schreckliche habe die Bücherschätze auf seinen Landsitz Alexandrowa Sloboda geschafft, und sucht dort schon jahrelang nach dem Versteck, er hat sämtliche Ruinen da umgegraben und sich stellenweise bis zu dreißig Ellen unter dem Boden vorgearbeitet.« Walser erging sich in einem Anfall gutmütigen Lachens, echte Schadenfreude lag diesem friedfertigen Mann offenbar nicht. »Ist das nicht komisch? Er sitzt mitten auf dem Schatz und buddelt dreißig Lieues von dieser Stelle entfernt in der Erde herum. Der Metropolit hat eine stattliche Bibliothek aufgebaut, sie ist ein Heidengeld wert, aber mit der Liberey kann sie sich natürlich nicht messen. Meine Arbeit als Bibliothekar bestand darin, für jeden Band einen kleinen Zettel mit einer kurzen Inhaltsangabe anzulegen und diese Kärtchen hinterher nach Themen und Disziplinen zu ordnen. Eine ausgezeichnete Idee – Taissi nannte diese Methode ›Kartothek‹. Wenn man zu viele Bücher hat, findet man das, was man braucht, oft nur schwer; da gehst du also an den Zettelkasten und blickst sofort durch. Wenn Ihr beispielsweise Informationen zur Kosmografie sucht . . .«
»Herr Walser«, unterbrach der Hauptmann den in Fahrt gekommenen Büchernarren, damit er nicht zu weit abschweifte, »von der Kartothek könnt Ihr mir später erzählen. Bleibt erst mal bei der Liberey.«
»Ja, ja, Entschuldigung«, stimmte der Apotheker schuldbewusst nickend zu. »Ich habe ein paar Monate bei Taissi gearbeitet. Die Anlage der Kartothek machte nur langsam Fortschritte, weil ich, wie Ihr sicher versteht, im Wesentlichen mit etwas ganz anderem beschäftigt war. Die kostbare Bibliothek hatte der Metropolit in weiser Voraussicht nicht im oberen, hölzernen Teil des Palastes, sondern in dem steinernen Keller untergebracht, der tief unter der Erde lag. Man kann dort leicht tief graben, weil es sich um eine natürliche Mulde handelt. Ich dachte, auch vor hundert Jahren, als der Opritschny Dwor gebaut wurde, müssen die Meister zu demselben Urteil gekommen sein. Wenn das Versteck wirklich hier war, so musste man direkt unter der Bibliothek des Metropoliten suchen. Tagsüber hatte ich im Apotheken-Amt zu tun und praktizierte als Arzt, zur Mochowaja ging ich abends und arbeitete da in der Nacht. Das passte besser zu meinen Zielen, sowohl die Diener als auch Taissi schliefen da. Ich legte ein kleines Stück des Bodens frei, grub die Eichenstäbe also so aus, dass man sie leicht herausnehmen und wieder an den Platz legen konnte. Das Parkett lag auf Bohlen. Ich sägte eine quadratische Öffnung hinein und klebte die Stücke wieder mit einem Leim eigener Herstellung zusammen. Auf diese Weise hatte ich so etwas Ähnliches wie eine Luke. Unter den Bohlen war Asche und verbrannte Erde – die Spuren des Brandes unter den Tataren. Und damit begann der schwierigste Teil der Arbeit. Ich hob eine Grube aus und schaffte die Erde in kleinen Säcken weg. Ich kam nur langsam vorwärts. Monatelang schlief ich kaum, aß im Stehen, wie es gerade kam – und trotzdem: Ich wurde nicht krank und verlor nicht die Kraft. Im Gegenteil, meine Muskeln wurden kräftiger, und ich stärkte meine Gesundheit. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Verstand den Körper lenkt. Die Möglichkeiten des menschlichen Organismus sind wirklich unbegrenzt! Man muss nur das Arsenal, das uns die wohltätige Physiologie zur Verfügung gestellt hat, richtig zu nutzen wissen! Wenn sich die Menschen nicht selbst die Hände durch leeren Aberglauben fesselten und ihren eigenen Verstand verleugneten, wären sie wie die antiken Götter. ›Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch seine Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten!‹, hat der große Shakespeare gesagt.«
»Wer?«, fragte Cornelius. »Aber das ist eigentlich nicht so
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