Die Bibliothek des Zaren
prüfen. Ja, ich wusste die ganze Zeit, wo die Liberey versteckt ist, doch dahin vorzudringen war ohnehin nicht möglich, und ich wollte Euch erst kennen lernen. Ich habe mich in diesem Monat davon überzeugen können, dass Ihr ehrlich und verschwiegen seid. Ich habe die richtige Wahl getroffen.«
»Hört, Herr Walser, ich habe schon gesagt, dass ich Euch nicht böse bin, obwohl das heißt, dass ich vergeblich die Steinplatten in allen Kellerräumen des Palastes abgeklopft habe«, sagte Cornelius, der am Ende seiner Geduld war. »Hört auf, Euch zu recht-fertigen, und erzählt lieber, wo das Versteck ist. Wie habt Ihr es gefunden? Wann?«
Sie gingen schnell die dunkel werdende Straße entlang, die zum Skorodom-Tor führte.
»Ich erzähle Euch zuerst, wie ich den Ort gefunden habe. Das Wichtigste dabei ist ja die Gedankenarbeit, die in der Kombination und richtigen Interpretation der Informationen besteht. Der Rest ist ein Kinderspiel: etwas Geschicklichkeit und Muskelkraft. Die Hauptarbeit hatte der Verstand zu leisten. Könnt Ihr Euch erinnern, dass ich schon einmal die Eintragung aus dem Jahr 1564 im Archiv der kaiserlichen Handwerkskammer erwähnt habe, wo es um Semjon Ryshow, den Wasserbau-Meister geht? Aber ich habe Euch verschwiegen, dass in den Dokumenten über den Bau des Opritschny Dwor, der in derselben Zeit errichtet wurde, ebenfalls von Ryshow die Rede ist und daneben auch von einigen namentlich nicht aufgeführten ›Meistern des Unter-Tage-Baus‹. Aus historischen Chroniken wissen wir, dass vom Zarenpalast zum Opritschny Dwor, in den Iwan 1565 umzog, ein unterirdischer Gang führte, der unter der Kreml-Mauer und dem Fluss Neglinka verlief. Versteht Ihr, worauf ich hinauswill?«
»Wollt Ihr damit sagen, dass der Meister Ryshow unter diesem, wie heißt er noch gleich, Opritschny Dwor noch ein wasserdichtes Versteck angelegt hat?«
»Wenn es sich um ein weiteres Versteck handelte, müsste in dem Verzeichnis ein weiterer Auftrag für Bleiplatten oder irgendwelche anderen Materialien aufgeführt sein, doch so etwas wird im Zusammenhang mit dem Opritschny Dwor nicht erwähnt. Nein, es geht um ein und dasselbe Versteck, das war mir sofort klar! Man schaffte die Bleiplatten in den Kreml, führte die Arbeiten aber im Opritschny Dwor unter der Erde aus, versteht Ihr?«
»Das heißt . . .«, setzte Cornelius an, hielt inne und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel, »das heißt, sie gruben vom Palast aus einen Gang zum Opritschny Dwor und schafften das Blei unterirdisch dorthin? Aber wieso? Um das geheim zu halten?«
»Na klar, warum denn sonst!« Walser lachte erregt und kniff wegen des Pulverschnees, der den beiden ins Gesicht flog, die Augen zusammen. »Es ist bekannt, dass der Borowizki-Hügel, auf dem das Schloss des Großfürsten steht, seit Urzeiten von unterirdischen Gängen zerklüftet ist. Experten haben mir erzählt, dass in der Mitte des Hügels in alten Zeiten eine Schlucht war, die man später mit Erde zuschüttete. Man hat sie zwar zugeschüttet, aber die Galerien blieben erhalten. Und in späteren Jahren, wer hat da nicht alles unter dem Kreml gegraben! Der Gang, den Ihr im Keller des Steinpalastes gefunden habt, ist jüngeren Datums. Vielleicht hat der Bojar Morosow, der Erzieher und anfängliche Mitregent von Alexej, ihn anlegen lassen, es heißt, er jagte fremden Geheimnissen hinterher. Und mit dem Opritschny Dwor des Zaren Iwan hat es Folgendes auf sich: Während eines Angriffs der Krimtataren auf Moskau brannte dieser Holzpalast völlig aus. Es bot sich an, ihn an einer anderen Stelle wieder aufzubauen, dann hätte man die verkohlten Balken nicht wegräumen müssen. Aber der Zar befahl, den neuen Palast genau an der Brandstätte wieder aufzubauen. Warum, werdet Ihr fragen.«
»Wegen des unterirdischen Bleiverstecks!«, rief der Hauptmann. »Es war ja vom Brand verschont geblieben!«
»Eben, mein prächtiger Freund. Das habe ich auch gedacht. Und als der Zar dann später die Residenz wieder in den Kreml verlagerte, nahm er die Liberey nicht mit, er hielt das nicht für nötig. Denn vom Zarenpalast zu dem Versteck konnte man durch einen unterirdischen Gang in nicht mehr als fünf Minuten gelangen, man brauchte nur eine kleine Kerze.«
»Wo stand denn der Opritschny Dwor?«
Walsers Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»In der Mochowaja-Uliza, genau in der Mitte zwischen dem Polizeiamt und dem Palast der Naryschkins . . .«
Von Dorn klappte die Kinnlade herunter – und sofort
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