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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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aufgetauchten Altyn Mamajewa dankbar war. Zweitens, weil er absolut nicht wollte, dass sie ihn zurück zur Uferstraße brachte (obwohl die Drohung vermutlich nicht ganz ernst gemeint war). Und drittens, weil es keinen Grund gab, etwas zu verbergen. Es war sehr gut möglich, dass Miss Mamajewa weitaus mehr von den Hintergründen wusste als er.
    Er packte den ganzen Weg über aus, bis zu dem oben genannten Beskudniki, das sich als Schlafstadt erwies, bestehend aus dreckig-weißen Plattenbau-Klötzen, und dann weiter, während sie zu Fuß in den neunten Stock stiegen (der Aufzug funktionierte aus irgendeinem Grund nicht), und zum Schluss kam er erst in der Küche, bei einer Tasse Kaffee, die ihm die Hausfrau genauso schnell und routiniert gekocht, wie sie das Steuer ihres kleinen Autos gelenkt hatte. Sie hörte nicht schlechter zu als Mister Pumpkin: schweigend und konzentriert. Sie unterbrach nicht, stellte fast keine Fragen (nur einmal, da fragte sie, wer der Bojar Matfejew sei), sie warf bloß ab und zu einen Blick auf den Erzähler, als prüfe sie, ob er lüge.
    Jetzt im sanften Licht eines roten Lampenschirms konnte Nicholas das Mädchen mit dem seltsamen Namen genauer in Augenschein nehmen.
    Schwarzes, kurz geschnittenes Haar, genauso schwarze Augen, die wohl ein wenig zu groß waren für das magere Gesicht mit den hervorstehenden Backenknochen, ein breiter, resoluter Mund, eine kurze Stupsnase: So sah die Inhaberin der Wohnung in Beskudniki aus. Und außerdem war sie schon sehr klein, besonders im Vergleich zu Fandorins Größe. Ein Mittelding zwischen einer schwarzen, ungestümen Schwalbe und einem kleinen, sich durchaus nicht nur von Pflanzen ernährenden Tierchen, einem Zobel oder Hermelin.
    Das war das Ungewöhnliche an diesem Gesicht, wurde Fandorin klar: Das Mädchen hatte die ganze Zeit nicht einmal gelächelt. Und nach dem harten Schnitt des Mundes zu urteilen, war kaum zu erwarten, dass sie je die Lippen zu einem Lächeln verzog. Nun hatte Fandorin allerdings in einem Artikel gelesen, dass ein Europäer (ganz zu schweigen von den ständig grinsenden Amerikanern) in seinem Leben im Durchschnitt dreieinhalb Mal so viel lächelte wie ein Russe. In diesem Artikel hatte gestanden, die russische Brummigkeit hänge mit einem anderen Verhaltenskodex zusammen – weniger Entgegenkommen und eine geringere soziale Bedeutung der Höflichkeit –, aber Nicholas konnte keinen großen Mangel darin erblicken, dass das Lächeln in Russland seinen ursprünglichen Sinn noch nicht verloren hatte und zu einer leeren, nichts sagenden Grimasse geworden war. Im Streit mit jenen, die Russland verleumdeten, hatte der Magister oft gesagt: »Wenn ein Russe lächelt, fühlt er sich wirklich wohl, oder sein Gesprächspartner ist ihm tatsächlich sympathisch. Wenn wir beide hier dagegen lächeln, so heißt das nur, dass wir uns unseres Zahnarztes nicht zu schämen brauchen.« Dass die kleine Inhaberin der kleinen Wohnung wenig Neigung zum Lächeln zeigte, war eine Bestätigung für diese Theorie. Das Mädchen war nicht bester Laune, und Nicholas gefiel ihr nicht – also lächelte sie auch nicht.
    Das ging ja noch. Aber dass Altyn Mamajewa, nachdem sie alle Informationen, die sie interessierten, bekommen hatte, es nicht für nötig hielt, ihrem Gast auch nur irgendetwas zu erklären, oder sich zumindest vernünftig vorzustellen, das war betrüblich.
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Nicholas nicht zum ersten Mal. »Sie sind dort auf der Uferstraße gerade rechtzeitig aufgetaucht, aber . . .«
    »Das wäre ja noch schöner, wenn ich zu spät gekommen wäre«, unterbrach sie zerstreut, wobei sie angestrengt über etwas nachdachte. »Das Timing war super. Ein paar Sekunden später, dann hätte dich dieser Mistkerl um die Ecke gebracht. Hast du das Teil in seiner Hand gesehen?«
    »Andeutungsweise.« Fandorin schüttelte sich, um sich von der schrecklichen Erinnerung zu befreien, und sagte höflich, aber bestimmt: »Sie haben mir noch nicht erklärt, wie und warum . . .«
    Altyn unterbrach ihn wieder, sie hatte offenbar eine Entscheidung getroffen:
    »Dann müssen wir eben pulpieren.«
    »Was?«, fragte er, weil er absolut nichts verstand.
    Darauf sagte sie etwas völlig Unverständliches und starrte ihm dabei mit ihren großen glänzenden Augen ins Gesicht:
    »Der Große Sosso.«
    »Verzeihung?«
    »Sosso Gabunija«, setzte das unhöfliche Fräulein seinen Humbug fort. »Ich sehe an deinen Stielaugen, dass dir das nichts sagt . . .

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