Die Bismarcks
stand Hannah vor dem Sarg ihrer Mutter in der unzerstörten Kapelle. Am 15. Oktober 1945 kehrte sie nach Potsdam zurück. Spätestens jetzt stand ihr Entschluss fest, die Stadt zu verlassen. »Ich möchte auch meine vier unverheirateten Töchter aus diesem Friedhof, der einstmals Deutschland war, herausbekommen, bevor es der Russen wegen zu spät ist«, vermerkte sie bitter in ihrem Tagebuch.
Mithilfe britischer Offiziere organisierte Hannah vom Oktober 1945 an den Umzug nach Berlin-Charlottenburg in die Ulmenallee 23. Dort besserte sich die Lage der Familie. Die zwei Töchter Alexandra und Philippa erhielten Stellen bei der Besatzungsmacht. Das Holländische Rote Kreuz unterstützte die Ankömmlinge. Da Hannah alle Konten in Potsdam hatte zurücklassen müssen, half Bruder Otto zusätzlich mit 5000 Reichsmark aus. In Friedrichsruh wurde in diesen Wochen der Sachsenwald abgeholzt, Hamburg brauchte Brennmaterial für den ersten Nachkriegswinter. Otto, der sich über seinen schwedischen Schwiegervater Zement besorgt hatte, versuchte mit seiner Frau, den Westflügel von Friedrichsruh vor dem Winter wieder aufzubauen. Aber dann wurde das Material beschlagnahmt und die Rekonstruktion des Gebäudeteils von den Behörden untersagt. Somit wohnten die Bismarcks weiterhin in der Kutscherwohnung über dem Pferdestall.
Ann Mari hatte im Laufe des Jahres 1945 ein Hilfswerk für Flüchtlinge gegründet. Zeitweise wurden 2000 Menschen in Aumühle bei Friedrichsruh mit Essen versorgt. Aus dem Provisorium wurde eine Institution, die im Laufe der nun folgenden 20 Jahre knapp 200 000 Menschen mit Gütern des täglichen Lebens versorgte. In Aumühle entstanden ein Kindergarten und eine Schule. 180 Siedlungshäuser wurden mit Spendenmitteln errichtet, die die Familie gesammelt hatte. Ann Maris Schwägerin Melanie gründete ebenfalls ein Hilfswerk, das sich um junge deutsche Kriegsgefangene kümmerte, die in den Niederlanden oder anderswo inhaftiert waren. Unter ihnen befanden sich auch blutjunge ehemalige Angehörige der SS . Als Melanie den späteren Parlamentspräsidenten Gerstenmaier, der seinerseits Hilfsprogramme organisierte, um Hilfe bat, lehnte dieser ab. Er wolle mit NS -Belasteten, und seien sie noch so jung, nichts zu tun haben. Diese Weigerung hielt Gerstenmaier später nicht davon ab, zu den großen Jagden zu kommen, die im Winter in Friedrichsruh stattfanden.
Otto und Gottfried hatten in früheren Zeiten eine enge Verbindung zueinander gehabt, die nun allerdings nachließ. Immerhin übergab Otto seinem Bruder, der Reinfeld verloren hatte, das Verwalterhaus in Schönau. Einschließlich eines Vorwerks, das Otto ihm ebenfalls schenkte, verfügte Gottfried nun wieder über 200 bis 300 Hektar eigenes Land. Da seine Frau Melanie von ihrer Mutter ein Vermögen in der Schweiz geerbt hatte, war die finanzielle Situation der Familie überraschend gut. Sie konnte sich sogar wieder Dienstboten leisten.
Aber Gottfried sollte sich von den Folgen seiner Inhaftierung nicht mehr erholen. Er war ein gebrochener Mann, der schwer darunter litt, dass er mehrere Jahre lang auf die Nazis gesetzt hatte und der Hakenkreuzfahne zunächst begeistert gefolgt war. In einem erschütternden Brief an Hannah, auf hartem Papier mit Bleistift verfasst, drückte er seine Trauer darüber aus, dass das geschwisterliche Verhältnis in dieser Zeit so schlecht geworden sei. Er bereue diese Jahre zutiefst und damit auch seine Fehlentscheidungen. »Du hattest in allem recht«, hieß es in seinem Schreiben. Eine Nichte, die ihn 1946 besuchte, traf auf einen völlig abgemagerten Mann, der mit dem Leben abgeschlossen hatte. Gottfried sprach nicht mehr. Er war leicht erregbar. Nicht einmal seine drei kleinen Kinder konnten ihm ein Lachen entlocken. Er schwieg beim Essen und starrte in die Landschaft. Mit seiner Frau herrschte Funkstille. In seinen Gedanken war Gottfried bei seiner Cousine Loremarie. Er hätte sie nach einer Scheidung gern geheiratet, aber sie hatte sich für einen anderen Mann entschieden.
Auch Melanie erholte sich nur schwer von den psychischen Folgen ihrer Inhaftierung im Jahr 1944. Sie blieb bettlägerig, aber im Gegensatz zu ihrem Mann hatte sie mit dem Leben und mit Plänen für die Zukunft nicht abgeschlossen. Am 24. März 1949 kam es in Lübeck zu der Entscheidung im Entnazifizierungsverfahren gegen Gottfried. Der Kammer lag eine eidesstattliche Erklärung von Otto vor, die auf beeindruckende Art und Weise Zeugnis ablegte
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