Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bleiche Hand Des Schicksals

Die Bleiche Hand Des Schicksals

Titel: Die Bleiche Hand Des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
Vom Netzwerk:
Er heftete seinen Blick auf den Tisch, aber nicht wie ein Kind, das seiner Mutter nicht gehorcht, oder wie ein schüchternes Kind. Es war, dachte Clare, als würde er sie nicht einmal wahrnehmen.
    »Wenn wir eine neue Person kennenlernen, sagen wir ›hallo‹«, fuhr Debba fort. »Kannst du ›hallo‹ sagen?«
    Sein Blick verharrte noch immer auf dem Tisch. »H’lo«, sagte er, ignorierte Clare aber weiterhin. Er tippte mit den Fingern einer Hand auf die andere Handfläche und ließ sie im Kreis wandern.
    »Klar darfst du malen. Setz dich auf deinen Stuhl.«
    Skylar ging zu dem Platz, an dem Clare gesessen hatte, und sie sprang ihm aus dem Weg. Er kletterte auf den Stuhl, während seine Mutter einen Stapel leerer Blätter und einen Bleistift vor ihn hinlegte.
    Mit wilder Konzentration beugte er sich über das Papier. »Was malst du, Schatz?«, fragte seine Mutter, obwohl es offensichtlich war. Unter Skylars Bleistift nahm ein Bus Gestalt an, überraschend präzise und perspektivisch genau.
    »Omas Bus«, sagte er. »Die Räder, die Fenster, die Tür, die Scheinwerfer …«
    »Hm. Deine Busse gefallen mir.« Debba strich ihm übers Haar, während der Junge sein Bild vollendete, das Blatt zur Seite schob und mit dem nächsten begann. Der zweite Bus war mit dem ersten identisch. Clare beobachtete, wie Debbas Hand sich hob und senkte, wie in einem wieder und wieder erteilten Segen. Wie war es, so leidenschaftlich zu lieben? Was würde man auf sich nehmen, um sein Kind gesund zu sehen, wohlhabend, glücklich, klug? Was täte man, um sein Kind zu beschützen? Als sie zuschaute, wie Debba nach einer Schachtel Buntstifte griff und sie Skylar zuschob, ihn mit Farben lockte, erkannte sie die Antwort: alles.

10 Freitag, 9. April 1937
    T ot und begraben. Niels Madsen sann über die Redewendung nach, während er die Ketchem-Akte durchblätterte. Erst das eine, dann das andere. Diese natürliche Ordnung umzudrehen wäre schwierig. Er schloss die Seiten des grün bespannten Ordners und drückte auf den gelben Knopf seiner Gegensprechanlage.
    »Miss McDonald, würden Sie Mrs. Ketchem jetzt hereinschicken?«
    Einen Augenblick später hörte er das Klappern von Absätzen auf Holz, und seine Bürotür öffnete sich. Er stand auf, ging um seinen Tisch und trat ihr zur Begrüßung entgegen.
    »Mrs. Ketchem.« Er schüttelte ihr die Hand und wies auf einen der beiden Lederstühle vor seinem Schreibtisch. »Machen Sie es sich bequem.« Er beobachtete sie aus halb geschlossenen Augen, während sie sich setzte und ihr Kleid über den Knien glattstrich. Seine Kenntnis der Mode reichte nicht weit über ein beifälliges Nicken zu den Neuerwerbungen seiner Frau hinaus und ein gelegentliches schmerzliches Aufstöhnen, wenn er die Rechnungen erhielt, aber selbst er konnte erkennen, dass Jane Ketchems braunes Wollkleid schon seit einigen Jahren aus der Mode war. Die Absätze ihrer auf Hochglanz polierten, adretten Schuhe unter den gekreuzten Knöcheln waren abgetreten.
    »Kann Miss McDonald Ihnen einen Kaffee bringen?«, fragte er, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Unter ihrem Hut sah er graue Strähnen zwischen den glänzenden braunen Haaren. Sie hatten sich im Lauf der Jahre einige Male getroffen – er hatte die Papiere vorbereitet, als sie und Jonathon damals ihr Land erworben hatten, und sie beraten, als das Conklingville-Damm-Projekt ihnen eine Abfindung zahlte. In den Tagen ihrer Jugend war Jane eine ländliche Schönheit gewesen, die mit zunehmendem Alter eigentlich weich und rund hätte werden müssen. Aber die Ereignisse in ihrem Leben hatten es verhindert, und die einundvierzig Jahre alte Frau, die ihn von der anderen Seite des Tisches her gelassen ansah, war verhärmt und knochig. Jemand, den er nicht kannte.
    Er verschränkte die Arme. »Was kann ich diesmal für Sie tun?«, fragte er überflüssigerweise, weil er wusste, weswegen sie hier sein musste, es schon gewusst hatte, als seine Sekretärin ihm den Namen in seinem Terminkalender zeigte.
    »Ich möchte, dass Sie Jonathon gesetzlich für tot erklären lassen.«
    »Es sind jetzt sieben Jahre, nicht wahr?«
    »Richtig.« Ihr Gesicht war noch immer gelassen, aber er konnte sehen, wie sich ihre Hände um die Handtasche krallten, deren Leder ebenfalls gepflegt, aber abgewetzt war, wie ihre Schuhe.
    Er beugte sich vor. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Mrs. Ketchem, aber wenn wir uns damit beschäftigen, müssen

Weitere Kostenlose Bücher