Die Bleiche Hand Des Schicksals
Bibliothek, zwei Räume, ehemalige Schlafzimmer, ausgestattet mit einem Sammelsurium von Regalen, alles von zweckmäßigem, schlachtschiffgrauem Stahl bis zu verglasten Bücherschränken aus Mahagoni. Ein magerer Mann in einem riesigen braunen Pullover, der ihn noch ausgemergelter wirken ließ, beugte sich über einen der Lesetische.
»Verzeihung.« Clare sah flüchtig auf den Stapel ledergebundener Bücher neben ihm. »Sind Sie der Bibliothekar?«
»Ja«, erwiderte er. Er sah aus wie ein Reiher, als er sich aufrichtete. Er musterte sie über den Rand seiner Lesebrille. »Sie gehören nicht zu unseren regelmäßigen Besuchern.«
»Ich bin Clare Fergusson«, stellte sie sich vor. »Eine neue freiwillige Helferin. Ich katalogisiere die Sammlung oben.« Er starrte sie weiter an, als könnte er sich nicht vorstellen, was sie von ihm wollte. Sie gewann den Eindruck, dass die Bibliothek der Historischen Gesellschaft nur wenig genutzt wurde. »Ich bin auf diesen Zeitungsartikel gestoßen« – sie entfaltete das Schutzpapier und legte ihn auf den Tisch –, »und ich frage mich, ob Sie etwas darüber wissen.«
Er beugte sich vor, um den Ausschnitt zu betrachten. »Ja, natürlich«, sagte er. Sie wartete auf etwas, eine Erklärung, aber er sah sie nur an.
Na gut. Wie die meisten Bibliothekare fühlte er sich offensichtlich nicht genötigt, sein Wissen zu teilen. Aber das Fragenstellen beherrschte sie. »Laut dieser Karte« – sie wies auf den Ausschnitt – »wurden mehrere Städte überflutet. Was ist aus ihnen geworden? Aus den Farmen?«
»Die Hudson-River-Regulierungsgesellschaft hat die Landbesitzer in den zwanziger Jahren entschädigt und alles entweder abgerissen oder niedergebrannt. Häuser, Städte … die Bäume wurden auch gefällt.« Er sah sich im Raum um. »Wir haben eine schöne Sammlung Originalfotografien … Wo war das wieder …«
»Wohin sind die Farmer gegangen?«
»Die meisten der Einwohner, die umgesiedelt wurden, blieben in der Nähe.«
»Wie zum Beispiel in Millers Kill.«
»Genau.«
»Wow.« Sie versuchte sich vorzustellen, wie es für die Ketchems gewesen sein musste, ihr Haus in dem Wissen zu verlassen, dass es dem Erdboden gleichgemacht und absaufen würde. Konnte sich Mrs. Marshall daran erinnern? Clare würde sie danach fragen. Vorausgesetzt, sie war mit dem Friedhof der Ketchems nicht ohnehin auf der falschen Fährte. »Was geschah mit den Friedhöfen?«, fragte sie. »Innerhalb dieses Gebiets muss es eine Menge gegeben haben.«
»Die Toten wurden ausgegraben und umgebettet. Hier in der Gegend finden sich ziemlich viele von diesen Umbettungsfriedhöfen.«
Sie wollte nicht daran denken, wie diese Arbeit wohl gewesen sein mochte. »Ich bin auf einem winzigen Friedhof am Ufer des Stewart’s Pond gewesen. Könnte das ein Umbettungsfriedhof sein?«
»Der Stewart’s Pond«, sagte der Mann stirnrunzelnd. Er stand abrupt auf, umkreiste den Tisch, die Hand ausgestreckt, als wolle er nach einem Buchrücken greifen. Er kreiste weiter, näher an den Bücherregalen entlang der Wände, schoss mit einem Grunzen vorwärts und zog einen Aktenordner aus einem hohen Regal.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Kopien der Grundstücksübereignungen. Urkunden, all das. Die Originale haben wir nicht. Dafür muss man nach Saratoga.« Er klang verärgert. Rasch blätterte er die Seiten durch. »Wo liegt er?«
»Äh … man fährt die Old Route 100 hoch und kommt auf eine Landstraße … äh, und dann ein paar Meilen …«
Er sah vom Ordner auf, sein Gesichtsausdruck besagte Verschonen Sie mich. »Sehen Sie die Kordel, die dort vom Bücherregal hängt?« Er deutete darauf.
»Sicher.«
»Das ist eine Karte der Gegend. Ziehen Sie sie runter.«
Als sie näher an die Regale trat, konnte Clare die lange schwarze Röhre sehen, die an der obersten Leiste des Bücherschranks befestigt war. Sie zog an der Kordel, und eine große Karte entrollte sich geschmeidig. »Als ich noch zur Schule ging, hatten wir so eine im Klassenzimmer«, bemerkte sie.
»Zeigen Sie mir den Ort, den Sie meinen.«
Es fiel ihr leicht, sich auf der Karte zu orientieren. Sie fand die Stelle, wo die Kinder der Ketchems begraben waren, und zeigte mit dem Finger darauf.
»Aha«, sagte der Mann. Er blätterte weiter. »Ja, ja, ja, ja. Hier ist es.«
Clare blickte ihm über die Schulter. Er blätterte zwischen einer Seite, auf der offensichtlich die Grenzlinien eines Grundstücks eingetragen waren, und einer verkleinerten schlechten Kopie
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