Die Bleiche Hand Des Schicksals
einer amtlichen Urkunde hin und her. »Ihr Friedhof liegt an seinem ursprünglichen Platz, sehen Sie?« Er zeigte auf die Zeichnung. »Er befand sich am Ende eines Grundstücks. Die Landstraße existierte damals in den Zwanzigern noch nicht. Die Straße verlief hier« – er wies auf einen anderen Punkt – »entlang des Sacandaga River.«
»Gehörte dieses Land den Ketchems? Jonathon und Jane Ketchem?«
Er blätterte zu der Urkunde. »Jonathon Ketchem war der letzte Eigentümer.« Er sah sie an. »Es war damals nicht üblich, die Ehefrau in die Besitzurkunde einzutragen.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Ordner. »Gekauft 1916. Sie haben es wahrscheinlich in den zwanziger Jahren an einen Bodenspekulanten verkauft. Falls nicht, wurden sie 1929 enteignet.«
»Enteignet?«
»Einige der kleineren Landbesitzer wiesen das Angebot der Regulierungsgesellschaft zurück und versuchten zu bleiben. Ist ihnen natürlich nicht gut bekommen. Die Gesellschaft war zwar keine Regierungsbehörde, aber hinter ihr standen politische Schwergewichte. Jeder, der nicht freiwillig zum angebotenen Preis verkaufte, wurde vom Staat enteignet. Zwangsgeräumt.«
»Haben sie kein Geld dafür bekommen?«
»Doch, natürlich. Die Regierung kann Land nicht ohne Entschädigung enteignen, das wäre verfassungswidrig.« Er sah sie an. »Doch war es erst enteignet, bestimmte natürlich der Staat, was ein angemessener Preis war. Und was meinen Sie, wie viel das Land wert ist, das am Grund eines Sees liegt?«
»In dem Fall hätten die Ketchems bei dem Handel nicht viel Geld gesehen?«
»Vermutlich nicht.«
»Aber woher …« Sie bremste sich. Der Bibliothekar der Historischen Gesellschaft würde nicht wissen, woher Jane Ketchem das Geld hatte, um ihre Tochter aufs College zu schicken und für Allan Rouses Medizinstudium aufzukommen. Außerdem war das Jahre später gewesen, lange nachdem man sie von ihrer Farm vertrieben hatte. Und Mrs. Marshall hatte gesagt, ihre Mutter hätte klug investiert. Vielleicht hatte sie IBM-Aktien gekauft, als diese noch bei fünfzig Cent pro Stück lagen. »Warum hat die Hudson-River-Regulierungsgesellschaft überhaupt beschlossen, den Damm zu bauen?«
»Um die Überschwemmungen zu kontrollieren. Das Sacandaga-Flusstal ist Teil der Hudson-Wasserscheide. Ein natürliches Schwemmland, einer der Gründe, warum die Erde so fruchtbar war.« Er zog den Ausschnitt mit zwei Fingern zu sich heran. »Sehen Sie den Verlauf des Flusses, bevor die Dämme gebaut wurden? Hier befand sich die Sacandaga Vlaie.«
»Sacandaga Weihe?«, fragte Clare.
»Vlaie. Es ist ein altes holländisches Wort und bedeutet Sumpf oder Niederung. Es war ein riesiges Marschland und wimmelte von Wild. Wenn man heutzutage versuchen würde, so einen Damm zu bauen, träte sofort die Umweltbehörde auf den Plan. Aber damals waren Feuchtgebiete etwas, das man loswerden wollte, nicht schützen.« Sein Finger folgte dem Lauf des Flusses, der zum Hudson mäanderte. »Die Fluten überschwemmten das Sacandaga, ergossen sich in den Hudson, und ehe man sich versah, mussten die Leute in den Straßen von Albany Ruderboote benutzen. Außerdem waren die Überschwemmungen für den Ausbruch schlimmer Seuchen in einigen Städten am Flusslauf verantwortlich, da die Flutmassen die Abwässer hochspülten. Typhus, Cholera.«
»Diphtherie?«
»Das nehme ich an. Die Wirtschaft war die treibende Kraft dahinter …« Der Bibliothekar war in Schwung gekommen, er schilderte die ersten Bemühungen zur Eindämmung des Flusses, die Entstehung der Regulierungsgesellschaft, aber seine Worte flossen an Clare vorbei wie der Fluss selbst. Sie spürte sein furchtbares Gewicht, das Rauschen ihres Blutes, das Geräusch des Wassers. Der Fluss war durch Jonathon und Jane Ketchems Leben geflossen, hatte ihnen gute, fruchtbare Erde und kühle Sommertage gebracht und die Seuche, die ihre Familie zerstört hatte. Und dann hatte er sie mit sich gerissen und in der Gemeinde Millers Kill an Land gespült, wo Jane ihre Tage verbracht und ihren Schmerz über ihr verbliebenes Kind ergossen hatte, bis die Mutter, die Mrs. Marshall hätte sein können, in seinen Tiefen ertrank, und so dafür gesorgt war, dass niemals wieder ein Kind fortgetragen wurde. Und Jonathon? Clare hatte plötzlich eine überwältigende Eingebung, wohin er gegangen war. Er hatte kein neues Leben angefangen, wie seine Tochter zu glauben gelernt hatte. Clare sah ihn vor sich, so deutlich, als wäre sie dabei gewesen,
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