Die Blume der Diener
Tom sie kaum mehr als seine eigene Tochter, sondern nur noch als Bets Findling an, der ihn eine ganze Gerstenernte gekostet hatte.
Falls Elinor wusste, dass ihr Vater sie nicht recht mochte, ließ sie sich dies nicht anmerken. Ihre ganze Welt bestand aus Trey und Bet, aus der wohlriechenden Kräuterkammer und den Lichtungen im Wald von Hartwick. Bei Bet war sie ruhig und gehorsam – außer wenn es ums Spinnen und Nähen ging. Aber wenn sie mit Trey in den Wäldern war, wurde sie zum Wildfang. Sie erkletterte Bäume, spähte in Nester, zerriss sich das Kleid an Brombeerhecken und besudelte sich bis auf die Haut mit Schlamm, wenn sie neben einem Fluss hockte und kleine, pfeilschnelle Fische mit den bloßen Händen fing.
So wuchs Elinor von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr, bis sie im Oktober ihres vierzehnten Jahres Evas Erbe antrat und damit die Möglichkeit erhielt, die Hexenkunst zu erwerben.
So wie jeder Mann in Albia mit der Fähigkeit geboren wird, zu pflügen oder Leder zu gerben, zu singen und zu tanzen oder einen Löffel aus Holz zu schnitzen, besitzt jede albische Frau die Fähigkeit, die Kräuter des ’Feldes zu sammeln und aus ihnen durch Trocknen, Zerstoßen oder Auskochen machtvolle heilende oder schädigende Tränke und Salben herzustellen. Einige Männer sind Künstler oder hervorragende Kunsthandwerker; einige Frauen sind Hexen.
Es heißt, dass einst sowohl Frauen als auch Männer große Zauberkundige und Magier waren. Hochwohlgeborene Damen kümmerten sich um ihre Kräuterbücher und Zauberbücher genauso eingehend, wie sie sich heute um ihre Stickrahmen und Lauten kümmern. Aber nach und nach wurde die Magie zur Domäne einiger weniger gelehrter Männer und die Hexerei schwand dahin, wurde zu einer ländlichen Angelegenheit und zur Domäne der Bauersfrauen. Nur wenige Mütter machten sich die Mühe, ihren Töchtern beim Eintritt in die Welt der Erwachsenen eine rechte Abschätzungszeremonie zu bereiten; nur wenige Mütter gaben die alten Überlieferungen an ihre Töchter weiter, damit sie diese nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten benutzen konnten. So kam es, dass Bet, deren Mutter sich an den Alten Weg gehalten hatte, das Hexenweib eines gesamten Sprengels war, obwohl ihre Heilkräfte eher in einem scharfen Auge und gesundem Menschenverstand als in Magie begründet lagen. In den Tagen ihrer Großmutter hatte jedes Mädchen, das zur Frau wurde, dasselbe tun können wie Bet; einige vermochten sogar noch viel mehr, zum Beispiel Herzkrankheiten heilen oder Zaubersprüche gegen die Dunkelheit aussenden. Doch solche Sprüche waren immer weniger benutzt worden, seit der Zauberer John die schwarze Magie von Albias Ufern verbannt hatte.
Bet, die so altmodisch wie ihre Mutter war, begleitete Elinors Heranwachsen zur Frau mit einem angemessenen und feierlichen Ritual. Als der erste Vollmond aufging, sammelte sie einige frische Kräuter, die für eine herbstliche Abschätzungszeremonie nötig waren, und bei Monduntergang weichte sie sie für einen Tag und eine Nacht in Regenwasser ein. Vor dem Anbruch des nächsten Tages goss sie das Ganze in einen breiten irdenen Topf, den sie über einem Feuer aus Eschen- und Erlenholz erhitzte.
Als der Himmel dem Sonnenaufgang entgegendämmerte, nahm Bet den Topf vom Feuer und rief Elinor in die Kräuterkammer. Die alte Mrs. Gittings wohnte dem Ritual zusammen mit den Melkmägden Doll, Janet und Kitty bei. Doll und Kitty waren ehrfürchtig und hatten die Augen weit aufgerissen; sie wussten nicht genau, welche Ereignisse ihnen bevorstanden und welchen Anteil sie daran hatten. Janet war bereits im vergangenen Jahr abgeschätzt worden; sie, Mrs. Gittings und Bet rührten abwechselnd im Topf, bis die Kräuter- und Blumenteile umhersausten. Dann steckte Elinor die Hand in den wirbelnden Sud und hielt sie still, während das schimmernde Wasser ihr um die Finger floss und die Kräuter langsam auf den Boden sanken.
Ernst studierte Bet das Muster. Mrs. Gittings, die die Kräuter bei Bets eigener Abschätzung gelesen hatte, bewegte den zahnlosen Gaumen und räusperte sich. »Bei dir ist’s ein Baum«, erklärte sie schließlich. »Hab die Überlieferungen von meiner Großmama und kenn sie, seit ich noch ’n kleines Dirn war. Du hattest ’n Blatt, Bet, wie die meisten. Ich hatte ’nen Zweig, ’s war ’n Eschenzweig. Hab wenige davon gesehen seit König Johns Tagen. Aber ein Baum!« Dieses Wunder machte sie stumm.
Der Baum. Alte Weiber sagten, dass Blatt, Zweig oder Baum die
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