Die Blume der Diener
König von Albia keine anderen Ratgeber mehr als den in die Jahre gekommenen Erzbischof von Cygrtesbury, den Lord-Oberrichter Giles Higham, Sir Edward Sewale, den Grafen von Brackton und den Haushofmeister Flower.
Um die Mitte des Monats herum wurde die Luft über der Hauptstadt noch schwerer – wenn das überhaupt möglich war – und so erstickend wie ein dickes Federbett. Die Abteiglocken läuteten noch immer die kanonischen Stunden, doch ihre einst so süßen Stimmen klangen derart blechern und bemüht, dass die Einwohner kaum wussten, ob sie die Fenster schließen und vor Hitze umkommen oder sie öffnen und den schrecklichen Lärm des Geläuts ertragen sollten.
Beim Klang der Vesperglocken befand sich Lionel allein in seinem Privatgemach, hielt sich die Ohren zu und fluchte. Er fluchte noch lauter, als die Kante des Schriftstücks, das er in der Hand hielt, ihm in die Wange schnitt. Wütend knüllte er das steife Pergament zusammen, seufzte, glättete es wieder und warf es auf den Stapel ähnlicher Sendschreiben, die sich auf seinem Arbeitstisch türmten. Diese tintenfleckigen, manchmal höflichen, manchmal ungehobelten und fehlerhaften Briefe waren wie Sandkörner in seinen Augen, denn sie alle berichteten von dem einen oder anderen Unglück. Manche baten um Beistand; manche anderen gaben dem kaum verhüllten Vorwurf Ausdruck, Lionel führe das Land nicht halb so weise und stark wie sein Vater.
Neben dem Tisch stand Lissaudes Porträt auf einer hohen Staffelei. Aus ihrem vergoldeten Rahmen lächelte sie ihn mit geistloser Koketterie an. Ihr kleines, weißes Gesicht verlor sich beinahe unter dicken, gewundenen Haarbändern. Die schmalen weißen Hände hielt sie um eine Damaszenerrose gefaltet. Ihre Augen waren dunkel und hell zugleich – wie geöltes Holz. Ein Kreuz aus Perlen und Ebenholz hing über ihren schwellenden Brüsten. Lionel stützte den goldenen Kopf in die Hände und Tränen der Verzweiflung stiegen in ihm hoch.
Es klopfte. Der König zuckte hinter seinem Pergamentstapel zusammen und wünschte den Störenfried zum Teufel. Er wollte jetzt mit keiner lebenden Seele reden und dachte sehnsüchtig an Einsiedler, Mönche und fahrende Ritter, die zwar ihre eigenen Sorgen haben mochten, aber selten von beunruhigenden Dokumenten oder einem Klopfen an der Tür bedrängt wurden. Die Tür öffnete sich gnadenlos und Lionel setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Er errötete und schaute den Eindringling an.
Eine knabenhafte Gestalt, die schwer an einer breiten, goldenen Kette und einem dunklen Mantel trug, betrat den Vorraum. »Majestät?«, fragte Master Haushofmeister Flower mit anmutiger Ehrerbietung. »Darf ich ein Wort mit Euch sprechen?«
»Ich wünsche deinen Worten die Blattern an den Hals«, sagte Lionel verärgert. »Hier vor mir liegen genügend Worte. Wenn sich deine Worte um noch mehr Seuchen und Hungersnöte drehen, will ich sie erst gar nicht hören.«
Unbeeindruckt näherte sich William dem Tisch. Er nahm wahllos einige Papiere auf und hielt sie unter den Kerzenleuchter, der die Tischplatte erhellte. »Majestät, mir ist ein Gedanke gekommen, wie wir vielleicht den Grund für all diese Unglücke erfahren können.«
Lionel seufzte tief, zuckte die Achseln und befahl: »Bei Gottes heiligen Wunden – bring es hinter dich und spreche.«
Während Lionel mit den Fingern auf der Tischkante trommelte, las William schweigend ein Dokument nach dem anderen. Plötzlich stieß er ein leises Geräusch der Zufriedenheit aus und legte dem König einen zerknitterten Bericht vor.
»Seht, mein Herr und Gebieter, in diesem Brief spricht Baron Hedley von ›eynemm grossen Windte welchselbiger ohn Underlass blaset, auff dass dye Böcke nicht mehr wissendt seyn, was sye thun, sonndern gar ausser sich seyndt. Sye beissen die Schaafe welchselbige sye decken sollten.‹ Und hier« – William zeigte auf ein weiteres Pergamentblatt – »schreibt Lord Avola von ›eyner foulen Brise, so da blaset auss dene Marschenn, unnter welcher die Hautt eynes jedenn Menschenkindeß aussbrechet in Auss-Schlagh und Pußtelen, so eyn Trauer isst, selbige blos zu sehen.‹ Lord Heanor berichtet ebenfalls von einem fegenden Wind, genau wie Foley … und Nidd … und Maybank.«
Er legte die Berichte auf den Tisch. Dann richtete er erwartungsvoll den Blick seiner grauen Augen auf den König. Lionel hatte den Eindruck, die Hitze habe ihm den Verstand versengt. Er rieb sich mit den Händen über das feuchte Gesicht und fragte
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