Die Blutgabe - Roman
Dich behalten solltest. Aber das brauche ich Dir sicher nicht zu sagen.
Erinnerst Du Dich daran, dass ich Dir vor einiger Zeit von einem Ort erzählt habe, den Du damals noch nicht betreten konntest? Ich sagte Dir auch, dass sich dieser Sachverhalt in nicht all zu ferner Zukunft ändern würde, wenn Du Dich weiterhin gut bewährst – und das hast Du getan.
Der Zeitpunkt ist gekommen, Red.
Und darum, wenn Du erst in der Forschungsstation bist – halte die Augen weit offen.
Dann wirst Du dort vielleicht etwas finden, das sehr wichtig für Dich ist.
Ich vertraue Dir, dass Du klug und überlegt handeln wirst.
Viel Erfolg und meine besten Wünsche.
Kris
Red hätte nicht sagen können, wie lange er dort stand, die Fäuste gegen das glatte Holz der Tür gepresst, und auf den am Boden liegenden Brief starrte.
Er hatte es nicht mehr geglaubt, wurde ihm klar. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, Blue jemals finden zu können. Er hatte sogar schon begonnen, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Hatte geglaubt, dass er begann, sie zu vergessen – und dass irgendwann nichts mehr übrig sein würde als die Erinnerung an die starken Gefühle, die er für sie empfunden hatte. Gefühle, die mittlerweile ebenso weit von ihm entfernt schienen wie Blue selbst.
Jetzt aber wusste er: Er hatte nichts vergessen. Gar nichts.
Kris hatte nicht gelogen.
Er hatte Blue dort draußen in Kenneth gefunden. Und er hatte sie an jenen Ort gebracht, der die Forschungsstation war, auch wenn Red nicht verstand, wieso. Warum hatte Kris Blue nicht hierher geholt?
Er konnte sich den Grund dafür nicht vorstellen, und der Gedanke verursachte ihm eine unbestimmte Übelkeit.
Aber er drängte sie mit aller Kraft zurück, während er sich nach dem Brief bückte, ihn zusammenfaltete und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
Er würde es früh genug herausfinden. Er würde in die Forschungsstation gehen.
Und was auch immer er noch dort vorfinden sollte – es würde keinen Unterschied machen. Denn dann, endlich ...
... würde er Blue wiedersehen.
ZWEITER TEIL: WAHRES BLUT
Die Ausprägung besonderer Fähigkeiten ist doch oft nur die Folge einer Mangelmutation.
Kapitel Eins
Forschungsstation White Chapel, Kenneth, Missouri
Etwa zur gleichen Zeit, als Red September 38.07 an seinem ersten Morgen in Insomniac Mansion seinen ersten Blick auf die Stadt Kenneth warf, stand auch Dr. Cedric Ignatio Edwards an seinem Fenster und blinzelte in die aufgehende Sonne.
Schon wieder eine Nacht vorbei
, dachte er und betrachtete sinnend das Licht, das gemächlich über die Getreidefelder vorankroch.
Macht insgesamt zweitausendfünfhundertdreizehn. Nicht mehr weit bis zum Jubiläum. Sechs Wochen noch. Dann sind es sieben Jahre. Sieben schon …
Cedric seufzte und strich sich gedankenverloren die Haare aus dem Gesicht.
Wir sollten das mal feiern
, überlegte er und lächelte über den Zynismus in den stummen Worten.
Nein, wirklich. Sieben Jahre Frust. Das ist doch eine Party wert.
Das Lächeln verblasste so schnell, wie es gekommen war. Cedric schüttelte resigniert den Kopf und seufzte erneut. Dann wandte er sich vom Fenster ab und ließ die Jalousien herunter, um wenigstens einen Teil des Lichts auszusperren. Er würde heute nicht nach Hause gehen, wie seine Mitarbeiter es schon vor fast zwei Stunden getan hatten. Es gab an diesem Tag viel zu tun. Und er hatte nicht einmal damit angefangen.
Die Aufzeichnungen über den Test der vergangenenNacht lagen noch auf seinem Schreibtisch – stumm und gleichgültig starrten sie ihn an. Cedric hätte sie gern weggeräumt. Aber er konnte sich nicht überwinden, sie anzufassen, also zog er die unterste seiner Schreibtischschubladen auf und holte Katherines Mappe daraus hervor. Mit einem Knall ließ er sie auf die Papiere fallen. Nun musste er sie wenigstens nicht mehr sehen.
Nachdem er noch einige Augenblicke lang reglos ins Leere gestarrt hatte, schlug er mit einem weiteren Seufzer die Mappe auf und beugte sich darüber. Er musste etwas tun, um sich abzulenken, bevor er mit der eigentlichen Arbeit begann. Zumindest für eine Weile. Über Katherines Fortschritte zu brüten, war nicht viel erbaulicher, als über die Ergebnisse der letzten Nacht nachzudenken. Aber immerhin hatte er hier eine Idee, wie er weiter vorgehen konnte. Schließlich ähnelte die Arbeit mit Katherine viel mehr einem Geduldspiel oder einem Puzzle als einem echten wissenschaftlichen Problem. Und nicht zuletzt musste er über
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